Sex, Drogen und Tränen

Festivalbericht: ZFF 2019
Bildquelle: 
© Zurich Film Festival

Lange fragte sich die Schweiz, ob es neben dem Filmfestival in Locarno ein weiteres internationales Festival braucht. Genauso lange haderte Nadja Schildknecht mit dem Job als Festivalleiterin, wie sie an der Award Night verriet. Doch es brauchte eine entscheidende Zusage und Nadjas Bedenken waren verflogen. Die Zusage kam 2007 und von keinem geringeren als dem 3-fachen Oscar-Preisträger Oliver Stone. Der Rest ist Geschichte.

 

Nach 15 erfolgreichen Jahren geben Nadja Schildknecht und Karl Spoerri die operative Leitung an Christian Jungen ab. Erneut mit einem Publikumsrekord. 117‘000 Menschen tauchten in die Welt des Kinos ab. Wer würde sich als Jurypräsident im letzten Jahre von Schildknecht und Spoerri besser eignen als Oliver Stone? Keine Überraschung also, reiste der US-Amerikaner erneut an, um die ehrenvolle Aufgabe anzunehmen.

 

Eine ideale Chance, um die grossen Namen näher zu sehen bzw. mehr über ihr Schaffen zu erfahren, bietet sich in «Master Class» oder «A Conversation with», Podiumsveranstaltungen bei denen die Filmstars Rede und Antwort stehen. In diesem Jahr etwa «Twilight»-Star Kristen Stewart, Oliver Stone, Donald Sutherland, Roland Emmerich, Nicolaj Coster-Waldau, Julie Delpy oder Javier Bardem.

 

Die mit Abstand am aufwühlendste «Master Class» war jene von Julie Delpy. Die Französin berichtete tapfer von ihren Anfängen in der Filmbranche und dem unerträglichen Sexismus. Viel Regisseure versuchten die Chance auszunutzen, bis Julie mit Hoffnung auf Erlösung nach Hollywood reiste, um dort Anfang der 90er-Jahre vom wilden Treiben des Harvey Weinstein gewarnt zu werden. «Everybody knew» doppelte sie nach. Und sie scheute auch nicht davor zurück, darauf hinzuweisen, dass einige Damen mit den «Harvey-Deal» durchaus einverstanden waren und sich ihre Karriere so erbauten. Trotz dieses schweren Themas schaffte es Julie immer wieder mit ihrem schrägen Humor zu kokettieren. Ihr Geist sei immer wach und sie verfolge meist mehrere Gedanken zugleich. «Diesen Zustand müssen sie mal auf Drogen erleben», meinte sie lachend. Zu unerwarteten Tränen kam es, als Julie nach ihren Schauspielikonen gefragt wurde. Als sie auf Meryl Streep zu sprechen kam, schossen ihr von einem Augenblick auf den nächsten Tränen in die Augen. Zu schwer sei die Geschichte über den Verlust von Meryls erster Liebe mit Ende Zwanzig. Sogar Moderatorin Wendy war in diesem Augenblick ein wenig ratlos. Doch Julie fasste sich schnell und fuhr freudig und aufgeregt mir ihren Erzählungen weiter.

 

Ein anderer Tränenregner war Javier Bardem. Der Schauspieler, der in Zürich seinen Greenpeace-Film «Santcuary» präsentierte, drehte sich abrupt vom Publikum weg, als ein 15-jähriger Junge Bardem um seinen Rat fragte, was zu tun sei in dieser Klimakrise. Ob hier wirklich Tränen flossen oder es sich nicht viel eher um einen gekonnten theatralischen Schachzug handelte, sei dahingestellt. Sicher ist, Javier brachte viel Charisma und Melodramatik. Zum Stichwort Drogen wusste auch Oliver Stone viel zu erzählen. So seien diese nicht per se schlecht, es komme nur auf die korrekte Dossierung an, und diese beherrschen die meisten Menschen in der Regel nicht. Er habe seinem konservativen Vater mit 23 Jahren LSD in den Drink gemixed. Zwar sei es ein schöner Abend gewesen, aber liberalere Ansichten habe der Vater erst später wirklich angenommen, berichtete Stone. Den Abschluss machte am Sonntagmorgen «Game of Thrones»-Star Nikolaj Coster-Waldau, der in Zürich seinen neuen Film «Suicide Tourist» vorstellte. Trotz seines trockenen Humors, war der Däne doch sehr überrascht, dass er in der Schweiz am Sonntag kurz nach dem Frühstück mit Fragen zu seinem Status als Sexsymbol bombardiert wurde. Auf die Frage was er den vom «Game of Thrones»-Set mitnahm, antwortete er knapp «My Sanity».


In drei Hauptwettbewerben - «Internationaler Spielfilm», «Internationaler Dokumentarfilm», «Fokus Deutschland, Schweiz, Österreich» - sowie diversen Nebenprogrammen und Gala-Premieren zeigte das Festival eine breite Palette.


Hier alle Gewinner auf einem Blick:

 

  • Internationaler Spielfilm: «Sound Of Metal» von Darius Marder
  • Internationaler Dokumentarfilm: «Collective / Colectiv» von Alexander Nanau
  • Fokus Deutschland, Schweiz, Österreich: «Systemsprenger» von Nora Fingscheidt.
  • Publikumspreis: «Volunteers» von Anna Thommen und Lorenz Nufer

 

Unsere Lieblingsfilme am ZFF 2019 (willkürliche Reihenfolge):


«Marriage Story»: Scarlett Johansson und Adam Driver lassen sich scheiden. Noah Baumbach inszeniert eine liebevolle und qualitativ hochstehende Tragikomödie, die uns zum Lachen und Weinen bringt. Der Film ist jetzt schon ein Klassiker.

 

«Waren einmal Revoluzzer»: Frustrierte deutsche Grossstädter nehmen alten russischen Studien-Kollegen bei sich auf. Vorwiegend, damit sie sich besser und jünger fühlen, doch richtig aufgehen tut ihr Plan nicht. Wenige Filme zeigen schonungsloser die Doppelmoral auf, mit welcher wir zuweilen anderen helfen, dabei aber nur von unseren eigenen Problemen ablenken wollen. Zutiefst komische, entlarvende und intelligente Gesellschaftssatire.

 

«Pelikanblut»: Pferdetrainerin adoptiert verwaiste Kinder aus dem Osten. Was als Drama beginnt, entwickelt sich sehr rasch zum Ausnahme-Thriller mit bedrückender Spannung. Katrin Gebbes Film ist eine Entdeckung!

 

«Volunteer»: Der CH-Dokumentarfilm über eine Gruppe Schweizer, die im Mittelmeer Flüchtlingshilfe leisten, gewann hochverdient den Publikumspreis. Gänsehautmoment: Schweizer Bauer erzählt von seinen Erlebnissen, wie sie ihn von konservativen Werten befreiten und wie er sich nun mit den Schweizer First World-Problemen als Ausserirdischer in seinem eigenen Heimatland fühlt.

 

«The Farewell»: Junge, in NY aufgewachsene Chinesin muss zurück zu ihren Wurzeln, um sich von der sterbenden Grossmutter zu verabschieden. Lulu Wang schafft es, die innere Zerrissenheit vom emigrierten Kindern authentisch und mit viel Herz wiederzugeben, ohne dabei in seichte Emotionen zu fallen. Ein Kunstwerk, insbesondere durch die Performance von Hauptdarstellerin Awkafina.

 

«Sound of Metal»: Im diesjährigen Gewinnerfilm des internationalen Spielfilmwettbewerbs verliert Drummer Riz Ahmed sein Gehör. Durch die neue Lebenssituation muss er seinen Lebensweg überdenken. Handwerklich ausserordentlich umgesetztes Drama, das uns als Publikum den Gehör-Verlust des Protagonisten hautnah miterleben lässt. Die Figuren sind präzisse gezeichnet und glaubwürdig gespielt. Story stammt aus der Feder von Derek Cianfrance.

 

«Deutschstunde»: Die Romanverfilmung von Siegfried Lenz’ Klassiker brilliert mit einer atemberaubenden Kinematografie. Tobias Moretti und Johanna Wokalek geben sehr gute Darbietungen, die beim Deutschen Filmpreis nicht unberücksichtigt bleiben dürften.

 

«Hors Normes»: Die Geschichte eines Juden und eines Muslims, die in Paris eine Tagesstätte für autistische Kinder betreiben, beruht auf wahren Gegebenheiten. Inszeniert von den «Les Intouchables»-Regisseuren tauchen wir erneut in die Leben von stigmatisierten Minderheiten ein. Einmal mehr schaffen es die Regisseure, eine vorurteilslose und von Stereotypen befreite Geschichte zu erzählen, die voll ins Herz trifft.

 

«Lara»: Jan Ole Gerster, Tom Schilling und Friederike Kempter sind zurück. Nach «Oh Boy» verfolgen wir einen Tag im Leben von Lara, einer ehrgeizigen «Stage Mom» in Berlin. Wie bei «Oh Boy» treffen Situationskomik, Gesellschaftskritik und Poesie aufeinander. Wir freuen uns schon auf die nächste Zusammenarbeit der drei, die sie uns im Interview angekündigt haben.

 

«JUDY»: Renée Zellweger IST JUDY GARLAND. Punkt.

 

«My Zoe»: Julie Delpy inszeniert den Kindesverlust als Allegorie für den harten Sorgerechtsstreit. Provokant, mutig und in jeder Hinsicht innovativ erzähltes Drama.

 

«The Burnt Orange Heresy»: Neo-Noir-Thriller in der Kunstszene mit einer fabelhaften Elizabeth Debicki, einem verspielten Donald Sutherland und einem coolen Mick Jagger.

 

 

Tanja Lipak / Mo, 07. Okt 2019