Wo selbst der Regen zauberhaft wirkt

Moviekritik: Bombay Diaries
Bildquelle: 
www.trigon-film.org

Die junge New Yorkerin Shai (Monica Dogra) gönnt sich eine Auszeit und begibt sich für ein Jahr auf die Spuren ihrer Vergangenheit. Sie erforscht die Heimat ihrer Eltern: Bombay, das heute offiziell Mumbai heisst. Als Werkzeug nutzt sie ihre Fotokamera. Sie fotografiert die unterschiedlichsten Aspekte der Millionenmetropole und schreckt selbst vor den Rattentötern der Stadt nicht zurück. Kaum in Bombay angekommen, begegnet Shai dem verschlossenen Künstler Arun (Indiens Superstar Aamir Khan) und verbringt eine Nacht mit ihm. Am nächsten Morgen will er nichts mehr von ihr wissen. Shai kann ihn jedoch nicht vergessen, verliert ihn aber aus den Augen, weil er in ein anderes Viertel zieht. In der Zwischenzeit freundet sich Shai mit dem Wäscher Munna (Prateik Babbar) an. Er zeigt ihr sein Bombay, führt sie bis in die verstecktesten Gassen und verliebt sich dabei in sie. Arun findet inzwischen in seiner neuen Wohnung drei Videobänder seiner Vormieterin. Er schaut sie an und findet durch die hoffnungsvolle junge Frau, die auf den Bändern zu ihrem Bruder spricht, zurück ins Leben und zu seiner Motivation. 

 

 

In ihrem ersten Spielfilm verknüpft die Regisseurin Kiran Rao die Geschichten von vier Menschen auf wunderbare Weise. Dabei bleibt sie immer logisch und konstruiert keine Handlungsfäden, die nur den Zweck erfüllen, die Geschichte in der Spur zu halten. Die Regisseurin konzentriert sich lieber auf die Figuren und verleiht ihnen sehr viel Charakter. Die lebensfrohe Shai ist das Herz des Films. Sie bildet einerseits den roten Faden und steht gleichzeitig als verbindendes Element zwischen Arm und Reich. Während Shai in einem grosszügigen Haus lebt, haust Munna in einer Bretterbude. Er arbeitet hart für seinen Lebensunterhalt, hat mehrere Jobs und träumt insgeheim von einer Karriere in der Filmindustrie, während Shai sich nicht um Geld sorgen muss. Gerade weil der Film sich nicht vor den sozialen Problemen verschliesst, wirkt er so glaubhaft. Man sieht die Kriminalität, bekommt die Armut mit, aber auch die Hoffnung, welche die Figuren bei der Überwindung gesellschaftlicher Hindernisse empfinden. Diese bestechende Mischung macht «Bombay Diaries» einerseits zu einem Plädoyer für Toleranz und andererseits zu einer Liebeserklärung an die Stadt Bombay. 

 

 

Produziert hat den Film Aamir Khan, der in Indien längst ein Megastar ist und auch gleich selbst die Rolle von Arun spielt. Offenbar hat er ein sehr gutes Team zusammengestellt, denn schon in den ersten Sekunden des Films fällt die Kreativität auf. Besonders die Kamera ist erfrischend. Bombay wird aus der Sicht von Shai eingeführt, quasi direkt durch den Sucher ihrer Kamera. Im Prolog fährt Shai in einem Taxi und beobachtet das pulsierende Leben rund um sie herum, freut sich über die Kinder am Strassenrand, die aufgeregt in ihre Kamera schauen, und ist geblendet von den Lichtern der Stadt. Durch den ganzen Film zieht sich die Liebe zum Bild. «Bombay Diaries» ist beeindruckend fotografiert. Sogar der Regen wirkt zauberhaft. Etwas speziell ist am Film, dass mit den westlichen Erwartungen gespielt wird und jegliche bombastischen und für Bollywood typischen Tanzszenen fehlen. «Bombay Diaries» ist bei genauer Betrachtung eine schlichte, aber faszinierende Studie über die wichtigste Hafenstadt Indiens und ihre Bewohner. Eine lebensbejahende und berauschende Independent-Perle, die noch lange nach dem Verlassen des Kinos nahe geht. 

 

Ein kleiner Film über das Leben in allen Facetten. «Bombay Dairies» zeigt die Metrolole ungeschönt und doch romantisch. Die Gratwanderung gelingt aussergewöhlnich geschickt.  

  • Bombay Diaries (Indien 2011)
  • Regie: Kiran Rao
  • Darsteller: Amir Khan, Monica Dogra, Prateik Babbar
  • Länge: 100 min
  • Filmstart: 22. März 2012

 

Patrick Holenstein / Do, 15. Mär 2012