Stilvolle Alltagspoesie in Mumbai
Das nächtliche Leben auf den Strassen von Mumbai verströmt einen mondänen Hauch von Normalität. Strassenhändler bieten ihre Waren an oder räumen die Stände zusammen, während sich Menschen unterhalten oder eilig vorbeigehen. Hektisches Treiben in den Zügen, jenen stählernen Lebenslinien, die die Stadt durchziehen und verbinden, die sich mit Menschen füllen, die ein Ziel anpeilen. Aus dem Off erzählen Stimmen von dem Leben in der Metropole bzw. wie sie in die Stadt gekommen sind als die Kamera irgendwann eine junge Frau erfasst, die gedankenverloren aus dem Fenster schaut. Es ist Prabha, unsere Protagonistin.
Prabha arbeitet als Krankenschwester und wohnt mit der lebensfreudigen Kollegin Anu zusammen. Prabha, deren Ehemann kurz nach der Trauung der Arbeit wegen nach Deutschland gegangen ist, hat ein gutes Herz, ist aber sehr introvertiert, verteilt Patientinnen schon mal kostenlos die Pille, erlaubt sich selbst aber kaum zwischenmenschliche Kontakte. Anu dagegen ist offenherzig und liebt heimlich einen jungen Mann, mit dem sie nicht zusammen sein kann, und lebt als wäre jeder Tag der letzte. Die ungleichen Freundinnen ergänzen sich aber genau darum wunderbar. Als eine gemeinsame Freundin ihre Wohnung verliert und deswegen in ihr Heimatdorf umziehen muss, zögern beide nicht und helfen, auch wenn eine der Frauen Hintergedanken hat. Auf dieser Reise wirbelt eine unerwartete Begegnung viel Staub auf.
Visuell berauschend, kühl und neutral, aber gleichzeitig auch stillvoll, kunstvoll und berührend.
Das klingt nach wenig Handlung, erweist sich aber als sensibles und cleveres Portrait einer sensiblen Frau, die an ihrem Ehemann in der Ferne hängt, sich aber auch nach zwischenmenschlicher Wärme sehnt. Der Film nimmt sich viel Zeit, um die liebenswerte Protagonistin einzuführen. Ein goldrichtiger Entscheid. Die vielschichtige Erzählweise es ermöglicht, dass man rasch emotional bei ihr ist, wenn sie beispielsweise vor Langeweile den Herzschlag eines Globus‘ am Empfang des Krankenhauses abhört oder viel Geduld mit einer Patientin beweist, die ihre Medikamente versteckt.
«All We Imagine As Light» ist visuell berauschend, kühl und neutral, aber gleichzeitig auch stillvoll, kunstvoll und berührend. Etwa wenn Prabha nachts mit dem Handylicht in der Küche ein Gedicht ihres Verehrers liest, während es vor dem offenen Fenster regnet und ein Zug heult. So verschmelzen in diesem Moment von Grosstadtromantik Poesie und Realität auf elegante Weise. Dieer Ansatz zeigt auch in anderen Szenen schön das pulsierende Leben in Mumbai mit Strassenumzügen und Traditionen, aber auch unspektakuläre Momenten. Wenn beispielweise Anu im Regen knutscht und hinter ihr Jugendliche Fussballspielen, ist das so herrlich lebensnah eingefangen, dass man verzaubert ist. Die visuelle Kraft entfaltet in solchen Einstellungen die volle Wirkung. Andererseits sind Themen wie Einsamkeit und Gentrifizierung durchaus ein Thema. Freude und Leiden nahe beieinander, wie halt das Leben auch sein kann. Dadurch wird die Kunst von Regisseurin Payal Kapadia greifbar: Sie schnitzt mit rasiermesserscharfer Klinge ihre klare Vision, eine vielseitige und facettenreiche Geschichte, so gekonnt ins Zelluloid, dass viele Augenpaare in den Kinosälen gebannt an der Leinwand kleben werden.
Auf eine magische, aber nicht zu beschönigende Art und Weise ist der Film eine zweistündige Liebeserklärung an Mumbai und auch an das Leben im Rausch der Grossstadt. Das macht «All We Imagine As Light» so berührend. Es erstaunt daher wenig, dass der Film bereits einige renommierte Preise (Bspw. Grand Jury in Cannes) gewonnen hat und eben für die Golden Globe als «Bester fremdsprachiger Film» und für «Beste Regie» nominiert wurde.
Der erste Spielfilm von Payal Kapadia, die 1986 in Mumbai geboren wurde und schon als Kind ein Faible für Film hatte, ist eine wunderbare Arbeit. Kaum zu glauben, dass die Regisseurin erst beim dritten Mal am renommierten Film and Television Institute of India in Pune angenommen wurde. Die Hartnäckigkeit hat sich schon länger ausgezahlt. Kapadia hatte mit ihrem Film ein klares Ziel: «Ich wollte einen Film über Frauen machen, die ihr Zuhause verlassen, um woanders zu arbeiten. Mumbai war die richtige Kulisse dafür.» Gedreht wurde in zwei Phasen. Einmal zwischen Juni und Juli 2023 während der Monsun-Zeit. Diese regnerischen Momente wirken sehr kräftig und ausdrucksstark. Ein zweiter Block wurde im November des gleichen Jahres gedreht. «Wir mussten auf den Wechsel der Jahreszeit warten, denn an Indiens Westküste gibt es nicht viele Jahreszeiten, nur Monsun und Nicht-Monsun. Ich wollte die beiden unterschiedlichen Stimmungen einfangen», erklärt Kapadia.
Drehen in Mumbai ist an sich eine Herausforderung.
Drehen in Mumbai ist an sich eine Herausforderung. «Es ist ziemlich teuer, in Mumbai zu drehen, weil die gesamte Hindi-Filmindustrie dort ansässig ist», erklärt die Regisseurin. Daher wurde mit zwei Kameras gedreht. «Mit der Hauptkamera arbeiteten wir an den Orten, für die wir eine Drehgenehmigung hatten. Die zweite – eine kleine Canon EOS C70, die sich dafür sehr gut eignete – nutzen wir überall dort, wo man uns keine Erlaubnis erteilt hatte. Wir haben dann so getan, als wären wir zum Scouten vor Ort», unterstreicht Kapadia. Die Schauspieler:innen seien dabei äusserst kooperativ gewesen. «Sie haben alle schon bei Indie-Filmen mitgewirkt. Das machte es zu einem richtig bereichernden Prozess», unterstreicht Payal Kapadia.
«All We Imagine As Light» ist ein leiser, ein ruhiger Film, der es versteht, seinen Protagonistinnen eine Stimme zu geben, sie zu begleiten und es uns im Kinosaal damit erlaubt, als Gast in die Welt von Mumbai, der Stadt und in die Leben der beiden Freundinnen einzutauchen. Diese Erfahrung ist packend bis zum – wie könnte es anders sein – klugen und poetisch gestalteten Schlussbild.
«All We Imagine As Light» ist gefühlvolles Arthousekino und cineastische Bereicherung für alle, die ihr Herz für die feine Sprache von Payal Kapadia öffnen.
- All We Imagine as Light (Indien 2024)
- Regie & Drehbuch: Payal Kapadia
- Besetzung: Kani Kusruti (Prabha), Divya Prabha (Anu), Chhaya Kadam (Parvati), Hridhu Haroon (Shiaz), Azees Nedumangad (Dr Manoj)
- Laufzeit: 118 Minuten
- Kinostart: 19. Dezember 2024