Zwei Clochards auf Pilgerfahrt
In der Cinemathek der Süddeutschen Zeitung erscheint eine Edition für Fans von Filmen, die die Grenzen zwischen Fantasie und Realität bewusst verschwinden lassen. Dreizehn Filme wählte die Redaktion sorgfältig aus. Filme, die das Label «Traum und Wirklichkeit» diskussionslos verdienen. Bäckstage stellt in einer Serie drei Filme aus der Sammlung vor und verlost jeweils drei DVDs.
Teil 2: Die Milchstrasse
1900 wurde in Spanien ein Regisseur geboren, der das europäische Kino um ein Kapitel bereichern sollte. Wie kein Zweiter steht Luis Buñuel für den filmischen Surrealismus. Das Kino war 1929 kaum den Kinderschuhen entwachsen, als Buñuel gemeinsam mit Salvator Dali aus zwei gegenseitig erzählten Träumen das Drehbuch zu «Un Chien Andalou – Ein andalusischer Hund» schrieb und den bis heute verstörenden Kurzfilm inszenierte. Die beiden Künstler verstanden es, die Finessen des Mediums geschickt auszunutzen. Anhänger von Horrorfilmen werden einige Elemente wiederfinden, die das Genre später gerne zitierte. Schon hier zeichnete sich ab, dass Luis Buñuel Bildsprache und Symbolik beziehungsweise die Wirkung, die das Medium Film auf die Menschen haben kann, wichtiger waren, als primär eine klar verständliche Geschichte zu erzählen. Erklärtes Ziel des Films war es nämlich, dass keine logische Folgerung möglich sein könne.
Noch während des Studiums in Paris kam Buñuel erstmals mit dem Surrealismus als Kunstströmung in Kontakt. Durch den Erfolg von «Ein andalusischer Hund» wurde er in die Kreise der französischen Surrealisten um Man Ray und André Breton aufgenommen. Bereits mit seinem zweiten Film «Das goldene Zeitalter» – gilt neben «Un Chien Andalou» als einer der wichtigsten Filme des Surrealismus - kritisierte Buñuel erstmals die Werte der Bourgeoisie und des Christentums. Ähnliche Kritik findet sich in seinem Gesamtwerk immer wieder. Anfang der 30er-Jahre reiste er nach Amerika und erlernte die dortige Filmtechnik. Ein Jahr später kehrte er bereits zurück. Der spanische Bürgerkrieg machte es ihm jedoch einen Strich durch die Rechung. Filme zu drehen war unmöglich. Während des Bürgerkriegs wurde Buñuel zur Unterstützung des spanischen Botschafters nach Paris gerufen. Nach dem Ende des Krieges zog es ihn nach Mexiko. Hier hatte Buñuel seine produktivste Zeit und drehte rund 20 Filme.
Toleranz steht im Mittelpunkt
Zwischen den wichtigen Werken «Belle de Jour» (1967) und «Der diskrete Charme der Bourgeoisie» (1972) entstand «Die Milchstrasse» (1969). Der Film begleitet die beiden Landstreicher Pierre und Jean auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Während ihrer Reise trifft das Duo auf allerlei dogmatische Figuren des Christentums und die Grenzen zwischen Realität und Traum verschmelzen zunehmend. Buñuel, der sich selbst als Atheist bezeichnet hatte, fokussiert filmisch die Auseinandersetzung mit dem Christentum. Dabei bleibt er neutral. Er lässt seine Figuren sowohl für als auch gegen eine Existenz Gottes sowie über Sinn und Unsinn von Religionen referieren und transportiert so im Grunde ein vielschichtiges Bild von Toleranz gegenüber Religion und Glauben. Luis Buñuel macht seine Meinung schon deutlich, vermeidet es aber, zu missionieren. Auf dem Weg über die Milchstrasse nutzt er die beiden Clochards als Ventil, lässt sie hinterfragen und reflektieren.
Genauso wie Buñuel die Ideologie des Christentums kritisiert, thematisiert er die Ketzerei. Beispielsweise sagt Marquis de Sade zu einer gefesselten jungen Frau, es gäbe keinen Gott, daher würde, wer bizarren Neigungen nachgeben würde, nur seiner Natur folgen. Oder ein Jäger schiesst freudig auf einen Rosenkranz und bricht kurz darauf in Tränen aus, als ihm die Jungfrau Maria leibhaftig erscheint. «Die Milchstrasse» ist voller Anspielungen und Symbole, die sich auf die Diskussion um das Christentum beziehen. Bezeichnend ist aber, dass Luis Buñuels Film zwar die Ideologie hinter dem Christentum durchaus in Frage stellt, aber in keiner Weise auf plakative Automatismen zugreift. Nie wird ein gläubiger Mensch direkt kritisiert, nie Gott als definitiv nicht existent bezeichnet. Im Gegenteil. «Die Milchstrasse» ist eine subversive und sehr vernünftige Auseinandersetzung mit einem Thema, für das schon Kriege geführt wurden.
Der Titel des Films passt in zweierlei Hinsicht. Weil sich die Pilger früher auf dem Jakobsweg an den Sternen orientiert haben, wird der Weg noch heute Milchstrasse genannt. Luis Buñuels hatte zudem den Ruf, ein verträumter Mensch zu sein. Durchaus vorstellbar, dass er dann und wann zu den Sternen abschweifte. Insofern passt der Filmtitel auch zum Regisseur.
- Die Milchstrasse (FR, West-DE, IT 1969)
- Regie: Luis Buñuel
- Darsteller: Laurent Terzieff, Paul Frankeur, Delphine Seyrig, Edith Scob
- Laufzeit: 97 Minuten
- DVD-Start: Im Handel erhältlich.
In Kürze folgt der letzte Teil unserer Serie: «Jacobb’s Ladder» von Adrian Lyne