Die Italiener vom Emmental
Masseneinwanderung, Überbevölkerung, Ausschaffung — das sind Begriffe, welche die Schweizer Politik und Gesellschaft seit einiger Zeit stark prägen. Die Ausländerdiskussion überflutet unser Land beinahe so stark wie die Einwanderer selbst. Klar, dass auch die nationale Literaturszene nicht um dieses Phänomen herumkommt. Es ist wohl kein Zufall, dass Francesco Micielis Gedanken und Erinnerungen an die italienischen Einwanderer und an die knapp verworfene Überfremdungsinitiative von Rechtspopulist James Schwarzenbach im Jahr 1970 gerade jetzt erscheinen.
Der ewige Fremde
In seiner rund hundert Seiten umfassenden Erzählung beschreibt Micieli drei schlaflose Nächte im Emmentaler Dorf Lützelflüh. Der Protagonist Angelo, welcher zweifelsfrei Parallelen zum Autor aufweist, wurde in das Dorf seiner Kindheit eingeladen, um ein Referat zum Thema «Gotthelf und die Fremden» zu halten. Vor gut vierzig Jahren ist Angelo als italienischer Migrantensohn hierher gezogen. Er hatte keine leichte Jugend: als «Sautschingg» wahrgenommen, musste er seine Schulzeit in der hintersten Bankreihe verbringen — unter dem Vorwand, sein Afrolook würde die Sicht der anderen Schüler behindern.
An diese Zeit erinnert sich Angelo, der sich mittlerweile mehr oder weniger etabliert zu haben scheint, nun zurück. Gedankenverloren streift er durch Lützelflüh, trifft alte Bekannte, ehemalige Schulkollegen, mit denen er abrechnen will, oder auch seine Jugendliebe Heidi. Ihr gegenüber scheint er immer noch Gefühle zu haben und er sucht erneut, aber vergeblich, Zuflucht bei ihr. Nebst diesen Gegenwartserlebnissen erinnert sich Angelo immer wieder an seine Jugend und an die Familie. Besonders an seine Mutter, welche sich damals zum Ziel gesetzt hatte, möglichst nicht wahrgenommen zu werden und in der Eisenbahn nie einen Sitzplatz zu besetzen. Die Schweiz sollte nicht merken, dass sie existierte. Die Lage der Italiener spitzte sich zu, als James Schwarzenbach (Angelos Vater spricht den Namen «Schwazzenbach» aus) die Überfremdungsinitiative lanciert, welche dazu geführt hätte, dass 300‘000 Italiener das Land hätten verlassen müssen. In beinahe halluzinogen anmutenden Zwiegesprächen mit Gotthelf versucht sich Angelo auszumalen, wie dieser wohl zum Thema stehen würde. Und dann war da noch die mysteriöse Geschichte, welche dem Italiener Makkinit und dem Polizeibeamten Weibel das Leben kostete…
Eine Flut von Gedanken und Erinnerungen
In kurzen, prägnanten Sätzen und mittels vieler Dialoge, sei es ein Gespräch mit ehemaligen Schulkollegen oder eine Auseinandersetzung mit dem imaginären Gotthelf, lässt Micieli seine Hauptfigur Angelo durch die Erzählung wandern. Nebenbei kommt der Leser in den Genuss einiger Fotografien, welche das «sich fremd fühlen» von Angelo deutlich untermalen (beispielsweise ein Knabe, der alleine am Ufer der Emme steht). Die vielen verschiedenen Stilmittel und die zahlreichen Gedanken tragen einerseits zur speziellen Atmosphäre bei, welche beim Lesen des Buches zweifellos entsteht. Andererseits bekommt man aber das Gefühl, dass ein roter Faden durch das Buch manchmal schwer erkennbar ist. Kaum ist ein Thema oder eine Geschichte aufgegriffen, fängt auch schon das nächste an — das kann den Leser zuweilen irritieren.
Das Thema ist brisant und sehr aktuell. Angelo hat sich unterdessen etabliert, verdient mit seinen Vorträgen gutes Geld. Heimisch ist er dennoch nicht. Akzeptiert, vielleicht ja. Doch fühlt er sich immer noch fremd, tritt quasi auch als Vertreter der Fremden auf. Politisch gesehen wurde die Schwarzenbach-Initiative damals mit 54 Prozent abgelehnt. 46 Prozent der Schweizer (Männer) stimmten ihr zu. Letzteres ist vermutlich die wichtigere Erkenntnis. Wie würde heute über eine solche Initiative abgestimmt werden? Hat Angelo damals einfach Glück gehabt? «Schwazzenbach» gibt darauf keine Antwort, zeigt aber eine literarische, sehr persönliche Sicht der Problematik.
o Buch: Schwazzenbach – Schlaflos in Lützelflüh
o Autor: Francesco Micieli
o Verlag: Zytglogge
o ISBN: 978-3-7296-0850-4
o VÖ: Im Handel erhältlich