Typisch Schweizerisch
Gespannt mache ich mich auf den Weg ins Zürcher Kaufleuten. Das «Züri Littéraire» verspricht heute die Frage zu klären, was die Identität der Schweizerinnen und Schweizer ausmacht. Ich habe mir diese Frage schon oft gestellt, doch bisher bin ich noch zu keiner schlüssigen Antwort gekommen. Irena Brežná und Peter von Matt werden heute Abend ihre Bücher vorstellen, die sich mit dem Thema «Schweizer sein und Schweizerin werden» auseinandersetzen.
Brežnás Roman «Die undankbare Fremde» erzählt die Geschichte einer Immigrantin, die aus einer Diktatur in die Schweiz flieht. Angekommen im immer sauberen Paradies wird von ihr erwartet, dass sie dankbar ist in einer solch heilen Welt gelandet zu sein. Doch die Sechzehnjährige kann sich mit der penetranten Pünktlichkeit, der Höflichkeit und der ewigen Zurückhaltung der Einheimischen nicht so richtig anfreunden.
Peter von Matt erörtert in seinem Werk «Das Kalb vor der Gotthardpost» die Geschichte, Literatur und Politik eines Landes voller Gegensätze. Die Schweiz sieht er als einen Staat zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Zeit der Industrialisierung hielt der Fortschritt in den Städten Einzug und nur die Bergdörfer blieben in ihrem ursprünglichen Zustand. Diese Entwicklung ist teilweise heute noch sichtbar.
Typisch schweizerisch
Im Kaufleuten angekommen, schaue ich mich im Publikum um. Die meisten haben sich schon zu ihrem Sitzplatz begeben, obwohl die Diskussionsrunde erst in zwanzig Minuten beginnt. Typisch Schweizerisch: Auf keinen Fall zu spät kommen. Diejenigen, die sich auf den Sofas noch ein Gläschen Weisswein gönnen, haben bereits ihre Mäntel auf ihre Plätze gelegt. So scheint es zumindest, wenn ich den Blick über die Sitzreihen schweifen lasse. Ich begebe mich auf die Suche nach einer Antwort auf meine Frage: «Was macht eine typische Schweizerin oder einen typischen Schweizer aus?» Ein älterer Herr mit weissen Haaren und schwarz umrandeter Brille auf der Nasenspitze sitzt auf einem der Sofas und scheint vertieft in Peter von Matts Buch. Er antwortet wohlüberlegt auf meine Frage: «Ein typischer Schweizer ist sich bewusst, dass er in einem Land lebt, in dem man als Bürger über Sachfragen abstimmen kann. Er hat also als Bürger sehr viel mehr Gestaltungskraft als in anderen Ländern». Eine junge Frau mit einer beigen Jacke und einem Glas Mineralwasser in der Hand meint: «Den typischen Schweizer gibt es nicht.» Ihr Begleiter stimmt ihr nickend zu, wendet jedoch ein: «Wenn man sich auf die Klischees bezieht, dann könnte man zum Beispiel sauber und ordentlich nennen.» «Und kleinkariert», ergänzt sie. Eine etwa 40-jährige Frau mit knallroten Haaren und rotem Lippenstift stellt fest: «Ich kenne keinen typischen Schweizer und ich lebe jetzt schon seit sechs Jahren hier.» An ihrem Hochdeutsch unschwer zu erkennen, stammt sie ursprünglich aus Deutschland.
Die Lichter gehen aus. Ich begebe mich eilig zu meinem Sitzplatz, den natürlich auch ich in weiser Voraussicht mit einer Jacke reserviert habe. Die beiden Moderatoren betreten die Bühne. Ich überlege mir, ob sie dem Bild eines typischen Schweizers entsprechen. Mona Vetsch trägt einen glatt gebügelten schwarzen Hosenanzug- eigentlich ziemlich Schweizerisch. Doch mit ihrer lebhaften und wortgewandten Art entspricht sie nicht dem Klischee «zurückhaltend und eher ruhig». Auch Röbi Koller sieht mit seinen ordentlich frisierten Haaren und dem dezenten grauen Anzug auf den ersten Blick wie ein Paradeschweizer aus, doch genau wie Mona Vetsch kann er zu gut mit Wörtern jonglieren, um zum Vorurteil «wortkarg und bescheiden» zu passen.
Kurz darauf betreten die beiden Gäste Irena Brežná und Peter von Matt die Bühne. Brežná, die ursprünglich aus der früheren Tschechoslowakei stammt und in jungen Jahren in die Schweiz immigrierte, gestikuliert gerne und legt einen recht plakativen Humor an den Tag. Ihr Buch «Die undankbare Fremde» wurde 2012 mit dem eidgenössischen Literaturpreis ausgezeichnet. Zu den Vorteilen einer solchen Auszeichnung meint sie: «Wenn ich Lesungen halte und jemand im Publikum ist nicht zufrieden, dann sag ich: Es ist eidgenössisch geprüft.» Das Publikum im Kaufleuten scheint jedoch zufrieden mit ihrer Darbietung und bricht bei diesem Kommentar in lautes Gelächter aus. Mona Vetsch erwähnt, dass «Die undankbare Fremde» auf französisch und mazedonisch übersetzt werden soll. «Ich glaube, ich werde die Einwanderung aus Mazedonien bremsen, die SVP könnte mir dankbar sein», sagt Brežná und löst damit erneut lautes Gelächter im Publikum aus.
Ideale Bergwelt contra kalte Grossstadt
Peter von Matt wirkt etwas ruhiger und zurückhaltender als Brežná. Für ihn ist die Schweiz seit jeher keine abgeschottete Festung. «Die Schweizer kommen und gehen. Das Land war früher so arm, dass seine Söhne ins Ausland gehen mussten. Es hat vom Export seiner Söhne gelebt», betont von Matt. In seinem Buch «Das Kalb vor der Gotthardpost» beschreibt er die Bergbevölkerung als das Urvolk der Schweiz. Die Heidi-Romane haben dieses Urvolk in der ganzen Welt bekannt gemacht. Johanna Spyri beschreibt darin das idyllische Leben in der Bergwelt als Ideal im Gegensatz zur kalten Grossstadt. Natürlich glaube in der Schweiz heute niemand mehr an die Existenz eines solchen Volkes, doch für den Tourismus diene es immer noch als Werbeslogan, sagt von Matt. «Kommt in die Schweiz, hier könnt ihr das Urvolk sehen», meint er schmunzelnd.
Das «Züri Littéraire» gab nicht nur eine, sondern reichlich Antworten auf die Frage, was die Identität der Schweizer ausmacht. Ein Land, das so stark von seinem «Kantönligeist» geprägt ist und gleichzeitig Einwanderern aus den verschiedensten Teilen der Welt eine Heimat bietet, kann keine einheitliche Wesenseinheit haben.
Mein persönliches Fazit lautet: «Die typische Schweizerin oder den typischen Schweizer gibt es nicht und das ist gut so. Denn ein Land voller Menschen, die immer pünktlich, höflich und zurückhaltend sind, wäre auf Dauer ziemlich langweilig.»