«Obacht Baby!»

Plattenkritik: Achtung Baby von U2

Nach der «Lovetown-Tour» waren U2 physisch am Ende und ein Umdenken dringend nötig, um eine Auflösung zu verhindern. Dieser Prozess endete in Berlin und manifestierte sich im rohsten und wohl ehrlichsten Werk im Backkatalog von U2: «Achtung Baby». 20 Jahre später kommt die Platte nun zu neuen Ehren.

 

U2 - Achtung Baby (20th Anniversary Edition)

 

November 1990. Das wieder vereinigte Berlin befand sich mitten im historischen Umbruch. Seit dem Mauerfall war ein Jahr vergangen und über der Stadt lag ein Hauch von Freiheit, Sozialromantik und lebendiger Geschichte, der Wind Of Change blies quasi durch die Strassen. Genau wie die Stadt, waren auch U2 an einem Wendepunkt angekommen. The Edge sagt heute, es sei damals klar gewesen, dass es übel geendet hätte, wenn die Band auf diesem Kurs geblieben wäre. Erklärtes Ziel musste es sein, die Band, zu der sie geworden waren, zu sprengen, dem Grössenwahn, den die letzte Tour in ihnen geweckt hatte, abzuschwören und sich wieder auf ihre Kernkompetenz zu konzentrieren: Musik zu machen. Wie Phönix aus der Asche stiegen U2 aus den Trümmern ihrer eigenen Vergangenheit empor und legten mit «Achtung Baby» ein Album vor, das Musikgeschichte schrieb.

 

 

 

 

 

 

Zum Jubiläum in neuem Sound

 

Zum 20-jährigen Jubiläum der Platte kommt «Achtung Baby» nun neu gemastert auf den Markt. In verschiedenen Ausführungen und jeweils mit Extras beladen. Die «Deluxe-Edition» bietet eine zweite CD, auf der B-Seiten und Raritäten zu finden sind. Während die Single-Beilagen bereits bekannt sind, sorgen die Raritäten für Spannung. Sechs Songs aus den «Achtung-Baby-Sessions» haben U2 auf die CD gepackt. Sofort fällt auf, wie ausgeglichen die unveröffentlichten Songs klingen. Etwa «Heaven & Hell», der durch mehrstimmigen Gesang und eine unbeschwerte Orgel besticht. Oder «Oh Berlin», die Hymne mit sakralen Zügen, die U2 der heutigen deutschen Hauptstadt widmen. Gegen Ende der Platte versteckt sich «Everybody Loves A Winner», ein Duett mit Maria McKee, die Ende der 80er mit «Show Me Heaven» vom «Days-Of-Thunder»-Soundtrack einen Hit verbuchen konnte. Über das Zusammenspiel der beiden Stimmen und dem Geschluchze einer betörend bluesenden Orgel entfacht das Stück eine prachtvolle, wenn auch – typisch für U2 – etwas überbordende Ästhetik. Erstaunlich, wie gut das «Ausschussmaterial» von damals klingt.

 

Die Hansa Studios in Berlin standen schnell zuoberst auf der Wunschliste, um das nächste Album einzuspielen. Der Puls von Berlin nahm U2 schnell gefangen. Elektronische Strömungen und Bands wie Einstürzende Neubauten und The Young Gods beeinflussten ihre Soundstrukturen. Hypnotische, repetitive und brachiale Elemente dominierten plötzlich die Musik, während Existenzängste, gepaart mit hedonistischen Figuren und biblischen Referenzen die Lyrics schwängerten. Vom Americana, der noch bei «Joshua Tree» tief in der Musik von U2 verankert war, war bald nichts mehr zu spüren. Urbane Beats zwischen Hip Hop, Alternative- und Industrial Rock verdichteten U2 zu den zwölf Songs, die ihre Karriere retteten. David Bowie hat in einem Interview mal über Berlin gesagt, dass er sich während seinen Aufnahmen in Berlin völlig anonym bewegen konnte. Gut möglich, dass genau diese Anonymität die dringend benötigte Medizin für das arg angeschlagene Konstrukt U2 war. In Berlin wollten U2 sich wieder auf die Musik fokussieren und sich auf den Entstehungsprozess der Songs konzentrieren.

 

 

 

 

 

Uber-Deluxe-Box

 

U2 sind eine Band, die sich gern über visuelle Stilmittel definiert und das ziehen sie beim Re-Release von «Achtung Baby» natürlich konsequent weiter. Bäckstage hat sich intensiv mit der limitierten «Uber-Deluxe-Edition-Box» zur Platte beschäftigt. Erstmal fällt auf, dass das Artwork von «Achtung Baby» in Form von magnetischen Täfelchen auf dem Deckel der Box angebracht ist und sich beliebig arrangieren lässt. Zugegeben, die Idee ist «nice», aber der Inhalt ist viel spannender. Neben der regulären Doppel-CD finden sich vier weitere Scheiben in ansprechend gestalteten Schubern. Neben der immer noch von den Berlin-Sessions beeinflussten Platte, «Zooropa», sind zwei Silberlinge mit diversen Remixes im Set. Wer sich bereits etwas genauer mit U2 beschäftigt hat, für den ist das kein Neuland, kennt man die meisten Remixes doch bereits von den Singles. Das wahre Juwel folgt zum Schluss. «Kindergarten – The Alternative Achtung Baby». Darauf ist die komplette Platte in frühen Versionen, allerdings bereits hörbar bearbeitet. So lassen sich Songs vergleichen, Textanpassungen verfolgen und nicht zuletzt eröffnet sich plötzlich ein kleiner Blick in die Arbeitsweise von U2. Wäre «One» in der reduzierten Version wohl der Überhit geworden, der das Stück heute ist?

 

Wenn wir schon bei der Arbeitsweise der vier Iren sind. Erstmals ist der Dokumentarfilm «From The Sky Down» in der Box zu finden. Mit Interviews von Wegbegleitern der Band und aktuellen Aussagen von U2 selbst wird die Entwicklung der Band bis zu «Achtung Baby» gezeigt. Der Film ist interessant und empfehlenswert. Für alle musikinteressierten Menschen sowieso, aber auch für jeden U2-Fan. Nur schon wegen The Edges brillanter Solo-Interpretation von «Love Is Blindness». Und wer das «U2-Gefühl» auf die Spitze treiben möchte, kann sich die originale «The-Fly-Brille» von Bono auf die Nase setzen und den Film schauen oder zu den Songs durch die Gegend tanzen. Die Box bietet einen ausführlichen Gesamtüberblick zu «Achtung Baby». Eingefleischten U2-Fans bietet sie allerdings wenig neues Material.

 

Die verschiedenen Publikationen werden dem Status von «Achtung Baby» durchaus gerecht. Wer sich für das Album interessiert, findet mit Sicherheit die passende Edition. Allerdings dürfte gerade die im Hochpreissegment angesiedelte «Uber-Deluxe-Box» eher etwas für Sammler oder vergiftete Fans sein. Auch wenn sie wunderschön gestaltet und mit viel Ton- und Bildmaterial gefüllt ist, so bietet sie zu viel schon bekanntes Material, um für ein breites Publikum spannend zu sein. Dafür gab es wohl noch nie eine so umfangreiche Gesamtdokumentation der Platte. Auf alle Fälle hat «Achtung Baby» die Ehrung bekommen, die das Album durchaus verdient. 

 

 

Bildquelle: Promo-Bilder Universal 

Patrick Holenstein / Di, 01. Nov 2011