In der Neunzigerjahre-Simulation.

Festivalbericht: Zürich Openair 2017
Bildquelle: 
Bäckstage / © Patrick Holenstein

Einen halben Kilometer vor der Stadtzürcher Grenze, direkt am Flughafen Zürich, brennt die Sonne auf die Trennlinie zwischen wuchernder Geschäftszone und Grünland. Am Ende eines langen Korridors stehen die türkis-blauen Plastikmauern des ZOAs. Besucher erhalten ein Armband mit Plastikchip. Dieser ist gleichzeitig Schrankenöffner und Zahlungsmittel. Aufgeladen wird er mit Bargeld an einer Schalterreihe. Das Festival findet zum siebten Mal statt und hat den Ruf, hoffnungslos verhipstert zu sein. Schnell wird klar, weshalb. Die Leute sind durchwegs gekleidet wie 25. Achtsam inszeniert mit Turnsäcken, Käppis, kurzen Hosen, Bärten und Sonnenbrillen, um bloss nicht aufzufallen. 

 

 Vollendet veredelter Werbekitsch: Das Feldschlösschli-Zelt. (Alternativ: Die Hauptbühne. Mit Maus über Bild fahren. / Foto: Mike Mateescu)

 

Vom Balkon des Medienzelts aus erinnert das Gelände an den Zürcher Hauptbahnhof. Menschenströme eilen einstudiert an Menschengruppen vorbei. Rastlose Zürcher ignorieren einander höflich am Popfestival der Nomaden. Das ZOA ist strukturiert wie ein Supermarkt, um grösstmöglichen Konsum zu garantieren. Entlang des Areals wechseln sich die drei Bühnen – Main Stage, Tent Stage und Dance Circus – mit den Essenständen und den sanitären Anlagen ab. In der Mitte stehen das Medienzelt, die Kunststoff-Burg einer Biermarke und der korngelbe Zigaretten-Würfel. Allesamt zweistöckig. Die Stimmung ist so friedlich, man könnte es bieder schimpfen. Mit grossen Stars kann man auch 2017 aufwarten, doch gerade kleinere Acts kommen zu wohlverdienter Aufmerksamkeit. Der Wattebausch-Country von First Aid Kit passt herrlich zur Abendstimmung. Auf dem Balkon klingt die Musik beinahe leise – bis man versucht, mit jemandem zu reden. Das anschliessende Folk-Konzert von Mumford & Sons wartet mit Glitter-Tornado auf. Das Publikum kreischt. Die Welt ist ein Vodafone-Werbespot. 

 

Techno zum Znacht

 

Bier gibt’s ab 6.50, Drinks kosten um die 16 Franken. Sie sind präzise gemischt, schmecken aber anständig. Das Personal ist unzürcherisch freundlich. Man darf wählen zwischen Indisch, Thailändisch, Dänisch, Italienisch, Griechisch, Deutsch und Amerikanisch. Das ist, dank mangelhafter Beschriftung, ein Bisschen wie bei «1, 2 oder 3». Ob man wirklich richtig steht, weiss man wenn man lange genug gestanden hat. Cervelat und Bratwurst sucht man vergebens, da wohl zu white. Dafür gibt’s Raclette. Im Hochsommer. Beim Abendessen wird man vom Dance Circus mit Technobeats beschallt. Schaut man dort hingegen am frühen Abend vorbei, betritt man die Disneyland-Version eines Raves. Niemand kifft, niemand tanzt. Die Leute stehen und trinken Bier. Da hat ihnen die Street Parade so beigebracht.

 

 Galerie mit Manillio, Mumford & Sons, Debrah Scarlett, First Aid Kit, Baba Shrimps, Noga Erez und mehr (Bilder: © Patrick Holenstein)  

 

«Weil man sich nicht mehr kennenlernen kann.» brüllt der Sänger von AnnenMayKantereit auf der Hauptbühne. Es ist Freitagabend. Tatsächlich kommt man bei den Foodständen am ehesten ins Gespräch. Weil man derart lange warten muss. Für die beste Pizza, die ich je an einem Festival ass, musste ich dreissig Minuten anstehen und deshalb Interpol verpassen. Also immer frisches Bier mitbringen! Danach spielen The XX. Die sind so schlecht abgemischt, dass Romys Gesang die Wasserflasche in meiner Hand zum Dildo macht. Es ist die Nacht der DJs. Auf der Hauptbühne beglückt ein Käppchenträger die Massen mit «Täg-Täg-Täg-TäTäTä-Trrrrr», im Tent gibt’s dasselbe mit halber Geschwindigkeit, Analogsounds und Krächzen, während man beim Fumoir/Nachtclub «Cube» sogar anstehen darf. Wie schön, dass Daniel Avery im Circus auflegt. Alle Bühnen haben Riesenbildschirme und bei Averys hypnotischem Sound kommen sie besonders gut zur Geltung. 

 

Wolke aus Geschwafel

 

Am letzten Abend sind die Schlangen vor den Ständen länger als in Harry Potter und Anaconda zusammen. Da freut man sich diebisch über das Medienzelt und dessen hilfreiches Barpersonal. Im Trend liegen Panamas, blinkende Schuhsohlen und LED-Becher. Beim Tent quillt das Publikum bis ans Abendlicht: London Grammar zaubern wunderschön und unnahbar. Ihr Sound schwebt über die Köpfe hinweg und kollidiert dabei mit der Wolke aus Geschwafel, die über dem Publikum hängt. Für Zürich ja eigentlich normal. Später erinnern Parov Stellar an die furchtbarsten Schandtaten der Neunziger. Mit House-Beats unterlegten Anleihen aus den 1920ern und Siebzigern, Trompeten und epileptischen Visuals. Sie pausieren gerade rechtzeitig, damit die Swiss-Maschine, die im Tiefflug über das Areal donnert, so richtig zur Geltung kommt. 

 

Das Hochrisikokonzert

 

Nach vier Tagen Pop gebührt die letzte Bühne dem Rock. Eine Absperrung trennt den Zuschauerbereich in zwei Teile, denn Konzerte von The Prodigy sind für ihre Moshpits berüchtigt – und für ihre Fans. Es wird gekifft und gekokst. Ich stehe zuvorderst an der Treppe zur Bühne. Ich gebe Rapper Maxim ein High five und auch Brandstifter Keith sucht die Nähe zum Publikum. Sehr zum Schrecken der Bodyguards. Er taucht auf der linken Seite in die Massen ein und kommt von rechts zurück auf die Bühne. Alte und neue Songs der Band wirken gleichsam aufpeitschend. «Get down!» befielt Maxim und bis zuhinterst gehen die Fans in Deckung. Dennoch erhält man den Eindruck, die Neunzigerjahre-Ikonen spulten einfach auf höchstem Niveau ihr Programm ab. 

 

Die Bühne am Zürich Openair bei Nacht.  Die Hauptbühne am Ende des dritten Tages. (Alternative: Publikum am Tag. Mit Maus über das Bild fahren. / Foto: Mike Mateescu)

 

Es ist noch nicht lange her, da besuchte man Festivals, um der Zivilisation – und vor allem dem Trott – zu entkommen. Um zu tanzen, zu rocken und ein Wochenende lang einen Mittelfinger auf Status zu geben. Ging es damals noch um Bands, so dominieren heute Brands. Niemand fällt mehr auf, niemand schwitzt mehr, keiner schreit herum. Die Menschenströme bewegen sich wie geplant zwischen Kuben auf Gras, eingerahmt von viel blauer Farbe.

 

So wie bei SimCity.

 

Die Organisatoren hören das bestimmt gerne. Dieses Jahr kamen über 80‘000 Menschen. So viele wie noch nie.

 

Der Hipster unter den Schweizer Openairs wird Sieben. Mehr Zürich geht nicht.

 

  • Das Zürich Openair findet 2018 vom 22. - 25. August statt.

 

Mike Mateescu / Mo, 28. Aug 2017