Das (zu) perfekte Festivalerlebnis

Kritik: Tomorrowland around the World
Bildquelle: 
©tomorrowland, zVg

Man betritt als Besucher bei «Tomorrowland around the World» wortwörtlich eine eindrückliche Welt. Die virtuelle Insel «Papilionem» wurde überhaupt erst erschaffen, weil durch das Coronavirus das weltweit bekannte belgische Elektro-Kultfestival in diesem Sommer abgesagt werden musste. Wo sonst rund 400‘000 Menschen vor den fantasievoll gestalteten Bühnen tanzen, blieb das Gelände still. Um den Fans trotzdem eine Möglichkeit zu bieten, das Festival zu geniessen, hat ein Kreativteam eine faszinierende Welt im Internet erschaffen. Auf einer fiktiven Insel sind verschiedene Hotspots verstreut. Darunter sind verschiedene Bühnen, eine Bibliothek, eine Cocktail-Area oder eine Sammlung an Rezepten für den Gaumen. Was das Festivalherz nur so begehrt. Aber im Fokus steht natürlich die Musik. Auf den Line-up stehen Namen wie David Guetta, Martin Garrix, Afrojack oder die Schweizer Acts Adriatique und EDX und sogar Hüttengaudi ist auf einer Bühne fix eingeplant. 1 Million Menschen haben weltweit mitgefeiert. 

 

Bequem ist das Navigieren auf der Insel. Wahlweise lässt sich über die Karte von «Papilionem» schlendern und Bühnen und weiter Standorte entdecken oder man greift direkt über das Menü zu, klickt von Stage zu Stage und vermeidet so, eine Bühne zu übersehen. Die verschiedenen Bühnen zeigen visuelle Ideen, die in der Realität kaum umsetzbar wären. Was bedauerlich ist, denn gerade «The Wall» mit seiner rechteckigen Grundfläche und der fast durchgehenden, an drei Seiten geschlossenen Videowand wäre als riesige Inszenierung wohl bei einem Konzert beeindruckend. Finanzierbar dürfte ein so riesiger Screen aber kaum sein und beim Thema Sicherheit würden zudem Alarmlampen nervös aufflackern, da das Publikum nur nach hinten fliehen könnte. Aber durch die aufwändig programmierten Welten des Teams, das sonst für Hollywood oder die Olympischen Spiele arbeitet, zeigt das Tomorrowland im Corona-Jahr einige Bühnen-Designs, die wohl ausserhalb des virtuellen Reichs ein Pixeltraum bleiben. Das macht sie umso einzigartiger.

 

Wenn der Sonnenuntergang die Bühne berührt …

 

Es sind dann auch die Details, die das Erlebnis abrunden wie die leuchtenden Bänder um die Handgelenke des Publikums und die Nordlichter im Hintergrund bei Martin Garrix. Oder dass sich die Stages der Tageszeit anpassen, etwa vom Sonnenuntergang berührt und langsam in die Dunkelheit geführt werden. In der Helligkeit wirkt die Landschaft zwar durchaus wie ein hervorragend programmiertes Computerspiel. Aber nachdem die Sonne weg ist, sind die Bühnen beeindruckend und der optische Konzerteindruck täuscht darüber hinweg, dass die Bühne und die Landschaft virtuell sind. Von den Lichtern über die verspielten Visuals im Hintergrund bis zum Feuerwerk wie bei Alan Walker, der den 20 Uhr-Slot auf der Mainstage am Samstag spielt, zündet alles. Gerade die Hauptbühne ist imposant und könnte eine antike Stätte oder ein Set aus «Herr der Ringe» sein. Das Gebäude um die Bühne herum erweckt den Eindruck aus Marmor zu bestehen. Zwei riesige Statuen aus denen Wasserfälle sprudeln wachen neben der Bühne und vor dem DJ-Pult liegt eine Sonnenuhr mit römischen Zahlen am Boden. Die Wände sind von Pflanzen überwuchert und rund um das Publikum sind Säulen arrangiert, auf denen Kunstwerke thronen. Dazu liegt die Arena in der freien Natur. Der Eindruck stimmt hier optimal und zeigt, welcher Aufwand wohl hinter dem ganzen Projekt stand.

 

Wenn aber beispielweise Alan Walker zum Mitsingen animiert, hat das eine bittere Note und zeigt die Grenzen auf, denn singen tut niemand mit ihm. Derart individuell auf jedes Set einzugehen, wäre wohl doch zu viel Aufwand gewesen. Selbst wenn die computergenerierten Menschen zum Mitmachen und Jubeln programmiert sind, das Live-Feeling ersetzen vermag das Experiment dann doch nicht. Hier kommt die fast zu perfekt wirkende Idylle an ihre Grenze und es fehlt dann doch das Gefühl, das man hat, wenn man bei einem Konzert dabei ist.

 

Eindrücke der Mainstage bei Tomorrowland around the World (©tomorrowland, zVg)

 

Ein kleines Detail stört dann zum Schluss den durchwegs harmonischen Eindruck doch noch. Lautsprecher sind keine zu sehen. Diese hätten den Eindruck von einem Festival etwas unterstrichen. Das mag ein technisches Detail sein. Vielleicht war es bei den Auftritten, die im Vorfeld in vier auf der Welt verteilen Studios aufgezeichnet wurden, von den Platzverhältnissen her schlicht nicht möglich, Lautsprecheranlagen aufzubauen bzw. einzuplanen. Eher unwahrscheinlich zwar, aber möglicherweise ist die Technik schlicht im Programmierprozess vergessen gegangen. Wahrscheinlicher ist aber, dass die grossen Türme die wunderschön gestalteten Arenas gestört hätten.

 

Ansonsten entfaltet sich die Illusion eines Festivals erstaunlich leicht. Perfekt getimte Lichtspiele und sekundengenaue Sets greifen wie ein gut geöltes Uhrwerk. Selbst bei genauem Beobachten fällt nicht auf, wo die programmierte Bühne endet und der Act beginnt. Äusserst beeindruckend, wie genau hier gearbeitet wurde. Bis zu Zwischenrufen aus den Zuschauerreihen wurde an alles gedacht. Wenn dann jemand wie Robin Schulz noch aktiv mitmacht, auf das Pult steigt und quasi die Menge anheizt, die bei seiner Aufzeichnung wohl nicht zu sehen war, beginnen die künstliche Realität und der Musiker zu verschmelzen.

 

Katy Perry mit weichgespültem Hitmedley

 

Nur der Auftritt von Katy Perry will nicht so recht ins Bild passen. Im Grunde spielt sie ein viertelstündiges, viel zu weichgespültes Medley ihrer Hits, das wohl mehr der Promo geschuldet gewesen sein dürfte als wirklichem Interesse. So wirkt ihr «Konzert» fast wie eine Karikatur, was eine unfreiwillige humoristische Note hatte. Da zeigten sich durch (wohl gewollte) Bildverzögerungen an den Körpern ihrer Band, die wirkten, als ob jemand schlecht ausgeführte Computerspiele als Inspiration genutzt hätte, und der Begriff Playback ist wohl sowieso ironisch. Den kurzen Auftritt hätte man sich ruhig schenken können. Danach wirkte Paul Kalkbrenner regelrecht entspannt.

 

Über die volle Distanz kann «Tomorrowland around the World» überzeugen. Dazu entwirft das virtuelle Festival einen Entwurf, was sein könnte, falls sich die Coronakrise noch länger hinzieht und Grossveranstaltungen länger nicht möglich sein sollten. Die Grenze scheinen jedenfalls in der virtuellen Welt kaum zu existieren. Aber so weit will man als kulturinteressierte Mensch gar nicht denken, das Livegefühl lässt sich nicht ersetzen. Als spannender Einblick in die technischen Möglichkeiten auf der Schnittfläche zwischen real eingespielten Parts und programmierten Welten zeigt sich das «Papilionem» als durchaus einen Besuch wert, auch wenn vieles etwas gar glatt und zu perfekt wirkt.

 

Eine Insel voller kleiner Entdeckungen und weltweit bekannter Namen. Das «Papilionem» ist ein hochwertiger Ersatz für das reale Tomorrowland.

* Wer noch sich über die etwas besondere Ausgabe von Tomorrowland informieren möchte, kann das unter tomorrowland.com tun.

 

Bäckstage Redaktion / Di, 28. Jul 2020