Konzert mit Hindernissen

Bäckstage: Im Rollstuhl an Konzerte
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Text von Erika Jüsi

 

Meral hört gerade U2s «Song For Someone» auf ihrem iPhone, als sie mich bittet, ihr die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen. Sie selbst kann sie mit den Händen nicht erreichen. Meral hat bei ihrer Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen und ist deshalb für fast alles auf Hilfe angewiesen. Sie habe ziemlich Pech gehabt, sagt sie selber, ihr Körper habe so einiges abgekriegt. «Aber auch Glück, denn es hat nicht alle Hirnzellen erwischt», lacht sie und wirft den Kopf zurück. Ihre dunklen Augen blitzen hinter den schmalen Brillengläsern. 

 

Wir wollen etwas essen und ich lade ihr das Gewählte aufs Tablett. Der Durchgang zwischen den Kassen im Selbstbedienungsrestaurant ist zu eng für ihren elektrischen Rollstuhl. Also steuert sie ihn zurück zum Eingang, während  ich für uns beide bezahle. Aber die Flügeltüren lassen sich nicht von innen öffnen. Eines von zahlreichen  Hindernissen, denen sich die 32-Jährige täglich gegenübersieht. Sie rege sich nicht mehr über solche Kleinigkeiten auf, sagt sie, es brauche halt für alles Organisation.  

 

Wie wenn sie an ein Konzert gehen möchte. Die Organisation beginnt dann schon bei der Anreise. Will sie mit dem Zug gehen, muss sie sich im Voraus bei der SBB anmelden, damit die Rampe für sie ausgefahren werden kann. Für die Reise an den Bahnhof muss sie genügend Zeit einberechnen: Die Knöpfe an den Fussgängerstreifen, die für grünes Licht sorgen, sind oft unerreichbar für sie. Die Trams sind noch lange nicht alle rollstuhlgängig und so muss Meral oft zwei bis drei Trams abwarten, bis sie einsteigen kann. Findet der Gig nicht am Wohnort statt (Meral wohnt in der Nähe von Basel), und sind die ÖV zu umständlich oder fahren sie spät nachts gar nicht mehr, kann die Reise ans Konzert und wieder zurück ganz schön ins Geld gehen. Viele Behindertentaxis verrechnen normale Taxi-Tarife. Meral würde für einen Weg 160 bis 300 Franken zahlen.

 

Am Konzert vor Ort gibt es je nach Lokalität unterschiedliche Möglichkeiten und  Einschränkungen. Die Platzwahl bei Stehkonzerten ist für Rollstuhlfahrer meist frei wählbar. Es lohnt sich aber in jedem Fall, vorgängig den Konzertveranstalter zu kontaktieren. Viele bieten eine begrenzte Zahl an Tickets für Rollstuhlfahrer und ihre Begleitpersonen an und sperren dafür geeignete Plätze mit guter Sicht auf die Bühne ab. Fast alle lassen Konzertbesucher mit einer Behinderung vorgängig in den Saal und begleiten sie auch auf die Plätze. 

 

Es gibt aber auch Konzertlokale, die für Rollstühle überhaupt nicht zugänglich sind, wie der Komplex Klub in Zürich, im Keller des Komplex 457. Es hat zwar einen Lift zum Lokal, der könnte aber in einem Notfall nicht mehr benutzt werden, und es stehen im Untergeschoss auch keine rollstuhlgängigen Toiletten zur Verfügung. Oben in der Halle des Komplex sind dafür immer für Rollstuhlfahrer Plätze reserviert. Das Volkshaus Zürich stellt bei Stehkonzerten schon mal eigens für Rollstuhlfahrer in der Nähe der Bühne ein Podest auf oder es hat oben auf der Galerie reservierte Plätze. Im X-Tra dürfen Rollstuhlfahrer – ausser jene mit den grossen elektrischen Rollstühlen – auch auf die Galerie. Die Betreiber raten aber aus Sicherheitsgründen davon ab. 

 

Im Hallenstadion sind die reservierten Plätze weit hinten und etwas zur Seite in der Nähe der Behindertentoiletten und Food-Stände. Aus baulichen Gründen können die Rollstuhlfahrer im Hallenstadion nicht frei wählen, von wo aus sie das Konzert sehen wollen. Die Fluchtwege wären nicht gewährleistet. «Früher waren die Plätze weiter vorne. Das war besser», sagt Meral, «vor allem weil manche Menschen im Rollstuhl zusätzlich Sehprobleme haben. Ausserdem war man dann auch mehr im Geschehen drin.» Und genau das geniesst Meral an einem Konzert: Mitten drin zu sein, eine von vielen, einfach dazuzugehören. «Zu den reservierten Plätzen im Hallenstadion zu gelangen, ist ziemlich mühsam. Erst geht es eine steile Rampe hoch und dann wird es eng, weil du durch die Menschenmassse hindurch musst. Die Leute schauen oft nicht, wo sie gehen, und die Helfer stehen nur hilflos herum und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen». («Ganz normal sollten sie sich bitte verhalten», sagt Meral.)

 

Was ist ihre schönste Konzerterinnerung? Ein Konzert von Elton John, ebenfalls im Hallenstadion. Das Schönste daran war für sie aber nicht einmal Eltons Musik, sondern, dass auf dem Nachhauseweg kein Tram mehr fuhr und sie sich mit Hilfe ihrer Freunde in ein normales Taxi verfrachten liess. «Das war ein Abenteuer!» 

Manchmal können Hindernisse auch Spass machen – zum Glück. 

 

U2 würde Meral auch gerne mal live sehen. Als ich mich von ihr verabschiede, stecke ich ihr die Kopfhörer wieder in die Ohren. «If there is a light, you can’t always see, and there is a world, we can’t always be», singt Bono. Sie schliesst die Augen.

 

Bäckstage Redaktion / Fr, 05. Feb 2016