Tieftraurige Odyssee einer geplagten Witwe

Moviekritik: Inshallah A Boy
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©trigon-film.org

Es genügt manchmal ein kurzer Moment, um ein einzelnes Leben langsam zu verwirbeln, sodass trotz aller Kraft, irgendwann die Zuversicht der Angst weicht, das Befinden in üblen Schwindel kippt und später der Ohnmacht der Teppich ausgerollt wird. So passiert es Nawal im Film «Inshallah A Boy».

 

Die junge Frau wird überraschend Witwe. Als ob das nicht tragisch genug wäre, hetzt sie der Bruder ihres Mannes einmal quer durch die Hölle. In schleimiger Höflichkeit steht er ihr zur Seite, um kurz darauf «fadegrad» Geld zu fordern, von dem die Frau noch nie gehört hat. Er sei knapp bei Kasse, schliesslich habe er die Beerdigung bezahlt, und müsse die ausstehenden vier Raten für den Pick-up haben, die er dem Bruder einst vorgestreckt habe. Ansonsten werde der Wagen verkauft und der Erlös unter den Geschwistern des Bruders verteilt. Hat denn die Frau keine Recht? Die Frage ist berechtigt, stellt sich aber nicht. In Jordanien sind die Männer vor dem Gesetz deutlich bessergestellt. Später will der Onkel gleich noch die Wohnung, der einzige sichere Rückzugsort des Mutter/Tochter-Duos, verkaufen, da sie Teil der Erbmasse ist und der Bruder keinen Sohn hat. Natürlich geht der Erlös an die Geschwister des Ehemannes. Dass die Witwe mit Tochter Noura so abrupt auf der Strasse stehen würde, interessiert niemanden.

 

Ein wagemutiger Plan mit weitreichenden Folgen

 

Mit zunehmender Verzweiflung versucht Nawal eine Lösung zu finden, verkauft gar ihre Möbel, um einen Teil der Schulden zu bezahlen. Doch das interessiert ihren Schwager nicht. Im Gegenteil. Er will jetzt das Sorgerecht für die Tochter, denn diese brauche schliesslich ihre Familie. Damit ist nicht die Mutter gemeint, sondern der Onkel mit seiner Familie. Die junge Witwe zählt in dieser Konstellation gar nichts. Als sich für Nawal ein Ausweg eröffnet, kann sie diesen trotzdem nicht annehmen, was durchaus plausibel ist. Aber sie hat einen Plan, der auf Messer Schneide steht. Vor Gericht lügt sie, sie sei schwanger. Das gibt ihr neun Monate Ruhe, weil laut Gesetz der Onkel während der Schwangerschaft nichts mehr unternehmen und Nawal so mit ihrer Tochter in der Wohnung bleiben kann. Aber ein Problem bleibt trotzdem: schwanger ist sie immer noch nicht. Einen Test fälschen, funktioniert nicht. Ihr bleibt ein wagemutiger Plan mit weitreichenden Folgen.

 

«Inshalla A Boy» ist trotz der emotionalen Geschichte kein lauter Film, sondern folgt der bedauernswerten Frau mit Ruhe, Respekt und Bedacht. Das erlaubt es umso mehr, mit ihr zu leiden. Aus einer westlichen Perspektive ist kaum zu fassen, was Nawal erlebt. Nur hat Jordanien, wie es im Film gezeigt wird, wenig mit einer freien Gesellschaft zu tun. Bei jedem Klingen an der Haustür muss Nawal den Schleier anziehen. Die Männer gehen dafür nach Belieben fremd. Diese Gegensätze sind mal mehr und mal weniger unterschwellig für die volle Dauer des Films da und das natürlich mit präziser Absicht. Schliesslich will der Film aufrütteln und den Finger genüsslich in die offene Wunde legen, die dieses soziale Gefälle darstellt.

 

Die Wohnung ist für Mutter und Tochter ein sicherer Ort. (©trigon-film.org)

 

Vor diesem Hintergrund ist der Pick-up, den Nawal unbedingt behalten will, mehr als nur ein Gefährt, eher ein Symbol aus kaltem Stahl, das für ihre Freiheit steht. Zwar kann die junge Frau nicht fahren, lässt es sich aber von einem Arbeitskollegen beibringen, selbst wenn das Gesehen werden mit einem fremden Mann neuen Ärger bedeutet.  Es scheint, dass Nawal so viel soziale Ungerechtigkeit um den Kopf fliegt, dass es keine Rolle spielt, wenn sie noch härter getroffen wird. So schaut man Nawal bei ersten Versuchen hinter dem Steuer zu und freut sich sehr für sie, weil sie sich dieses holprige, kleine Stückchen Freiheit einfach nimmt, weil es ihr zusteht. Es sind diese feinen Momente, in denen ein Lächeln plötzlich die Welt bedeutet, die den Film so emotional machen und zeigen, dass selbst in der trübsten Welt ein kleiner Lichtblick zu finden ist. Und es kontrastiert gleichzeitig die patriarchalisch geprägten Strukturen bzw. das Gefälle der Generationen, wenn der Fahrlehrer sich so gar nicht um die Regeln schert.

 

Wahre Geschichte als Inspiration 

 

Besonders toll ist, dass der feinfühlige und sehr auf die Frauen in der jordanischen Gesellschaft konzentrierte Film von einem Mann inszeniert wurde. Amjad Al Rasheed wurde 1985 in Jordanien geboren, kennt also die Gesellschaft gut. Der Film basiert auf einer wahren Geschichte aus der nahen Umgebung des Regisseurs, auch wenn diese für die betroffene Frau deutlich besser verlief, weil die Verwandten auf ihr Erbe verzichteten und sie unterstützen. So entstand bei Rasheed jedoch die Frage, was wäre, wenn auf das Erbe bestanden würde. So nutzte er die reale Geschichte als Inspiration und baute darum den Leidensweg einer Frau auf, die zwischen die knallharten Zahnrädern der Gesellschaft gerät, deren Geschichte aber jederzeit genauso möglich wäre. Das ist narrativ spannend und zugleich erschreckend, bedenkt man, dass es genau solche Szenarien tagtäglich gibt. Der junge Filmemacher wollte mit seinem Film auf die Missstände der Unterdrückung von Frauen aufmerksam machen und gleichzeitig eine Geschichte über Hoffnung, Überleben und Selbstbestimmung erzählen. Das hat er mit schlauer Symbolik und wunderschönen Bildern hervorragend umgesetzt, sodass der Film mehrfach ausgezeichnet wurde. Etwa beim Film Festival Cannes 2023 im Bereich Semaine de la critique mit dem Prix Fondation Gan + Label Europa Cinemas oder beim Fribourg International Film Festival 2024 mit dem Critic’s Choice Award. Das entzündet ein hoffnungsvolles Lichtlein, weil offenbar Themen, die aus dem Leben anderer Kulturen erzählen, auf der ganzen Welt Aufmerksamkeit bekommen. Vielleicht gelingt es so ganz langsam einige Aspekte zum Besseren zu wenden.

 

Und als letzter Punkt sei die grossartige Darstellerin Mouna Hawa erwähnt, die Nawal mit viel Leidenschaft ein dreidimensionales Profil verleiht und glaubhaft die völlig unterschiedlichen Emotionen auf die Leinwand bringt, manchmal nur mit einem leeren Blick, der Bände spricht. Als Gesamtwerk ist «Inshallah A Boy» ein trauriger Film, der wütend macht und genau durch diese radikale Einsicht wird er so glaubhaft. Man will Nawal helfen, ihr gute Ratschläge im richtigen Moment geben, Fehler ausreden und sie trösten, wenn alle Mauern zu brechen drohen. Dieses umfangreiche Spektrum an Emotionen ist für einen Film pures Gold, denn so erreicht man Menschen, zieht sie in die Thematik und die Geschichte begleitet sie noch lange nach dem Abspann tief in den Herzen.

 

Regisseur Amjad Al Rasheed schickt seine Protagonistin auf eine emotionale Tour de Force durch die sozialen Abgründe Jordaniens und nutzt die Steine in ihrem Weg geschickt, um auf Ungerechtigkeiten aufzuzeigen. Ein Film, der tief geht und bewegt.

 

  • Inshallah Walad (Jordanien, 2023)
  • Regie: Amjad Al Rasheed
  • Drehbuch: Amjad Al Rasheed, Rula Nasser, Delphine Agut
  • Besetzung: Mouna Hawa (Nawal), Haitham Omari (Rifqi), Yumna Marwan (Lauren), Salwa Nakkara (Souad), Mohammad Al Jizawi (Ahmad), Eslam Al-Awadi (Hassan), Seleena Rababah (Noura)
  • Laufzeit: 113 Minuten
  • Kinostart: 6. Juni 2024

 

Bäckstage Redaktion / Di, 04. Jun 2024