In die zweite Reihe verbannt

Moviekritik zu All Shall Be Well
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Ein kühler Tag eröffnet den neuen Film des preisgekrönten Regisseurs Ray Yeung. Zwei Frauen, Angie und Pat, wandern durch die nasse, regnerische Landschaft um Hongkong. Sind es Freundinnen? Schwestern? Schnitt. Eine Kaffeekanne mit kochendem Wasser. Der Schnitt ist clever gewählt, weil er das soziale Verhalten der Menschen im Verlauf des Films symoblisiert. Die Frauen essen gemeinsam. Sie sprechen über alltägliche Dinge wie Toilettenpapier oder die App WeChat, Details der Einrichtung und Kosmetiktipps. Später fahren sie auf den Markt, schwatzen mit Menschen an den Ständen, kaufen Lebensmittel ein und besuchen den Laden einer befreundeten Floristin. Es steht ein grosses Familienessen an, das Mondfest, wo sie die Verwandtschaft grosszügig bewirtschafte. Ein ganz normaler Tag in Hongkong also.

 

Als die Gäste weg sind und Angie die Küche aufräumt, antwortet Pat plötzlich nicht mehr. Sie ist eingeschlafen und gestorben. Beim Organisieren der Seebestattung, die sich Pat gewünscht hat, wird deutlich, wie die beiden Frauen zueinanderstanden. Der Bruder von Pat bedauert zwar, dass seine Schwester gestorben ist, versucht aber gar nicht zu verbergen, dass er ihren Lebensstil missbilligt hat. Offenbar waren die beiden Frauen ein Paar. Diese Missgunst wird deutlich, als ein Feng Shui-Meister eine Erdbestattung empfiehlt, weil ihr Geist im Wasser keine Ruhe finden würde. Die Familie ignoriert die Wünsche der Verstorbenen, schiebt Angie ins Abseits und zieht ihr so den Boden unter den Füssen weg. Ab diesem Zeitpunkt wird Angie nicht mehr gefragt und sämtlich Details über ihren Kopf hinweg entschieden. Zudem wird Angie überall als beste Freundin der Verstorbenen vorgestellt. Als sie bei der Abdankung in die zweite Reihe für Freunde der Familie gestellt wird, sieht man ihr förmlich an, wie diese vermeintlichen Kleinigkeiten ins Herz treffen. Zum Glück bleiben der Seniorin gute Freunde, die sie unterstützen und aufbauen.

 

Ob im Leben von Angie nochmals Freude einkehrt? (©trigon.film.org)

 

Aber es kommt noch schlimmer. Weil das gut situierte Paar 30 Jahre lang in der Wohnung von Pat gewohnt hat und es kein Testament gibt, muss Angie um ihre Wohnung bangen. In den Augen der Familie hat sie kein Recht darauf, auch wenn sie an der Wohnung beteiligt, aber nicht als Besitzerin eingetragen ist. Bei der Bank kommt sie nicht an das gemeinsame Schliessfach, weil sie ohne letzten Willen von Pat und als Teil eines unverheirateten queeren Paars keine Rechte hat. Sie müsste also die Freigabe ihres Schwagers einholen. Als selbst die Nichte der Verstorbenen vorschlägt, die Wohnung zu verkaufen und den Erlös durch vier zu teilen, weil das fair sei und für die Familie viele finanziellen Probleme lösen würde, wird klar, dass die zuvor geschätzte Rentnerin für die Familie keinen Wert hat. Angie beschliesst sich zu wehren.

 

Bewusst zurückhaltende Bildsprache und kaum Musik

 

Regisseur Ray Yeung hat sich bei «All Shall Be Well» für eine zurückhaltende Sprache entschieden. Visuell trifft er damit exakt ins Bull Eye. Die oft grau-braunen Farben passen ideal zur Stimmung von Angie, die zwischen Trauer und Wut hin- und hergerissen ist. Zudem unterstreicht dieser visuelle Ansatz die innere Kälte der Familie. So wird der Film den einerseits traurigen und anderseits verachtenswerten Aspektne in der Geschichte bestens gerecht. Das grossstädtische Setting spiegelt zudem das Totschweigen von queeren Paaren in der Gesellschaft, das unscheinbare Leben in der sicher scheinenden Anonymität. Selbst bei der Inszenierung des Todes verzichtet die Regisseurin auf zu grosse Emotionen, vermittelt lieber mit subtilen würdevollen Bildern, was die Geschichte eindringlicher macht, weil dieses Ventil des Herausschreiens der Trauer nicht geöffnet wird. Die Figur von Angie schweigt lieber, kämpft aber innerlich. Manchmal ist zu erkennen, wie ihre Augen traurig werden. Sehr geschickt nutzt Yeung Lücken, zeigt etwa die tote Pat bewusst nicht. Das ist gar nicht nötig, weil das Drehbuch clever genug geschrieben wurde. Um die Story noch authentischer zu erzählen, wird grösstenteils auf Musik verzichtet. Diese Inszenierung führt dazu, dass wir sofort auf der Seite von Angie stehen und zu keinem Zeitpunkt an ihrer Integrität zweifeln.

 

Angie fühlt sich alleine, wenn sie um ihre Partnerin trauert. (©trigon-film.org)

 

Regisseur Yeung ist in Hongkong geboren, wuchs aber später in London auf, wo er Jura studierte und erst später mit Umwegen über das Fernsehen und Werbung zum Film fand. «All Shall Be Well» ist sein dritter Langfilm. Oft behandelt er queere Themen. Im aktuellen Fall mit einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit. Sein Film stellt die gleichgeschlechtliche Beziehung nicht zu sehr in den Fokus und sich damit automatisch auf den Standpunkt, dass diese Beziehungsform schlicht normal sein sollte. Zudem war ihm beim aktuellen Werk wichtig, eine ältere Generation an queeren Menschen ins Zentrum zu setzen. Dem Regisseur war schon wichtig, die Rechte der LGBTQ-Gemeinschaft im heutigen Hongkong zu beleuchten, aber auch soziale Probleme zu thematisieren. Dieser Plan ist bestens aufgegangen. Der Film hat bereits bei der Premiere an der diesjährigen Berlinale dem Teddy Award für Filme mit queeren Themen bekommen. Am Seattle International Film Festival erhielt er den Grand Jury Prize Best Feature Film, am Frameline San Francisco International LGBTQ Film Festival den Audience Award und am FilmOut San Diego erhielt der Film die völlig berechtigen Festival Award Best Actress & Festival Award Best Supporting Actress.

 

Das Leben der LGBTQ-Gemeinschaft in Hongkong zwar im Blick, aber nicht zu dominant.

 

Die gesamte Story um den unerwarteten Todesfall und das Bewältigen der Erbschaft könnte so überall auf der Welt passieren. Oft spielen dabei religiöse Ansichten und Tradition, aber auch finanzielle Vorteile sowie Recht und Gesetz eine Rolle. «Diese Themen beleuchtet «All Shall Be Well» aus der Perspektive einer lesbischen Beziehung, rückt speziell diese Situation in den Fokus und macht zugleich die Rechte der LGBTQ-Gemeinschaft im heutigen Hongkong deutlich», unterstreicht Regisseur Yeung. Mit diesem Gedanken funktioniert der Film zusammen mit den sozialen Elementen als Einblick in das Leben in Hongkong bestens.

 

Die 93 Minuten, die wir mit Angie verbringen dürfen, sind traurig, erschütternd und ergreifend. Wir treffen eine herzliche und charismatische Frau, die zu sich steht und sich nicht versteckt, eine introvertierte Person, die sich nicht gerne im Mittelpunkt sieht, aber für jeden ein offenes Herz hat. Zu sehen, wie dieser liebenswerten Frühseniorin nicht nur durch den Tod der Liebsten das Herz gebrochen, sondern gleich auch noch von der Familie aus dem Brustkorb gerissen wird, tut weh. Man leidet mit ihr, will Schwager, Neffe und Nichte einmal kräftig schütteln. Dem berührenden Film gelingt es, einen bereits nach wenigen Minuten zu packen und zu fesseln und lässt einen mehrfach hilflos mit dem Kopf schütteln. Das liegt nicht zuletzt am hervorragenden Cast. Besonders Patra Au als Angie agiert beeindruckend. Wenn sie mit traurigem Blick ins Leere schaut, ist förmlich spürbar, wie sehr sie innerlich kämpft. Diese aufgewühlte Frau so würdig zu spielen, ist ein Geschenk, das die Schauspielerin nicht nur gegenüber dem Film bzw. ihrer Figur macht, sondern auch den Menschen im Kinosaal, als wichtiges Element für den emotionalen Zugang zum Film.

 

«All Shall Be Well» ist authentisch sowie realistisch und geht durch das doppelte Leiden einer vom Leben und den Menschen geplagten Frau ans Herz. Der Film zeigt Gier und Ausgrenzung und ist genau darum ein wichtiges Plädoyer für Menschlichkeit.

 

  • All Shall Be Well (Hongkong 2024)
  • Regie & Drehbuch: Ray Yeung
  • Besetzung: Patra Au, Lin-Lin Li, Tai Bo, Chung-Hang Leung, Fish Liew, So-Ying Hui, Rachel Leung
  • Laufzeit: 93 Minutenn
  • Kinostart: 17. Oktober 2024

 

Vorstellungen am Zurich Film Festival:

 

  • 4. Oktober / 18:15 Uhr / Kino Frame 6
  • 5. Oktober / 14:00 Uhr / blue Cinema Corso 2
  • 11. Oktober / 18:15 Uhr / Kino Frame 2

     

    Bäckstage Redaktion / Do, 03. Okt 2024