Die stumme Magie bewegter Bilder
Das essayistische Biopic «The Real Charlie Chaplin» zeichnet wichtige Stationen im Leben der Schauspiel-Ikone Sir Charles Spencer Chaplin nach. Der Dokumentarfilm gewährt ausserdem Einblicke in die Entwicklung des Stummfilms vor rund hundert Jahren.
«The purest form of cinema.» – so bezeichnete Alfred Hitchcock im Rückblick die Stummfilm-Aera. Tatsächlich erzeugt das Fehlen der Tonspur in einem Stummfilm einen interessanten Effekt – die Konzentration des Zuschauers auf die ihm präsentierten Bilder steigt. Während heute die Tonspur, also die Dialoge, die Filmmusik und die Geräusche wichtige Bestandteile eines Drehbuchs sind, war der Ton im Stummfilm nicht eingeplant. Bedeutsame Gespräche zwischen den Protagonisten oder fehlende Kontinuität in der Handlung wurden als Text auf Tableaus eingeblendet - und der Stummfilm funktionierte auch ohne den Ton.
Ein Stern geht auf
Einen entscheidenden Einfluss darauf, ob die Bilder im Stummfilm ihre Wirkung entfalten, hat die Präsenz des Schauspielers. Ein unvergessener Star dieser Zeit wird im Dokumentarfilm «The Real Charlie Chaplin» von Peter Middleton und James Spinney porträtiert. Mit seinen Slapstick-Einlagen, den weiten Hosen und übergrossen Schuhen, einem Spazierstock in der Hand und einer verbeulten Melone auf dem Kopf prägte der Komödiant Charles Spencer Chaplin während vielen Jahren die Figur des Tramps.
Die Dokumentation nimmt den Zuschauer mit in die ehemaligen Slums von London und auf Besuch zur Nachbarin Effie Wisdom, die mit Chaplin aufwuchs. Seine Eltern verlor der Künstler früh – seinen Vater an die Folgen des Alkoholismus, worauf seine Mutter bald psychisch erkrankte und sich nicht mehr davon erholte. Als Erwachsener fürchtete sich Chaplin noch vor der Armut, als er bereits sehr vermögend war.
Wie die Musik zum Stummfilm kam
Die Musik im Kino wurde durch verschiedene kulturhistorische Traditionen beeinflusst. Viele Schausteller bewegten sich um die Jahrhundertwende im Umfeld der Laterna Magica- Schauen, die meistens akustisch begleitet wurden. Fanden die Filmpräsentationen in Varietés statt, lag es ebenfalls nahe, die dort beschäftigten Musiker einzuspannen, sie an ein Piano zu setzen und den Film zu begleiten. Bevor sich um 1905 die ortsfesten Kinos etablierten, waren vor allem zwei Arten der Filmaufführungen beliebt: Stand für die Zuschauer der Unterhaltungs- und Erlebniswert im Vordergrund besuchten sie die von Musik begleiteten Darbietungen. Zuschauer, die sich mehr für die Wiedergabe von realen Bewegungsvorgängen und das neue Medium Film interessierten, fühlten sich eher zu stummen Filmpräsentationen ohne musikalische Begleitung hingezogen. Als sich die Kinosäle zu füllen begannen, wurden je nach Grösse und Rentabilität des Kinos sogar ganze Orchester engagiert, um einen Stummfilm musikalisch zu untermalen.
Auch für Chaplin und andere Stummfilm-Schauspieler blieben die neuen technischen Möglichkeiten des Kinos nicht folgenlos. Die Entstehung des Tonfilms gegen Ende der 1920er Jahre stellte die Kunst des Pantomimen und somit auch den Tramp, den Chaplin verkörperte, in Frage. Chaplin produzierte dennoch die beiden Stummfilme «City Lights» (1931) und «Modern Times» (1936) bevor auch er sich dem Tonfilm zuwandte. «Der grosse Diktator» (1940), Chaplins erster Tonfilm wurde ein grosser Erfolg. Darin parodiert der Komiker die Nazis und ihren Anführer Adolf Hitler, die zur gleichen Zeit Ausschwitz zum Konzentrations- und Arbeitslager ausbauten. Die bewegende Rede, die Chaplin darin hält, ging in die Filmgeschichte ein und endet mit den Worten:
«Lasst uns diese Ketten sprengen!
Lasst uns kämpfen für eine bessere Welt!
Lasst uns kämpfen für die Freiheit in der Welt,
das ist ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt.
Nieder mit der Unterdrückung, dem Hass und der Intoleranz!
Lasst uns kämpfen für eine freie Welt der Vernunft
eine Welt, in der uns Fortschritt und Wissenschaft allen zum Segen reichen. Soldaten! Im Namen der Demokratie: Dafür lasst uns streiten!»
Zu diesem Zeitpunkt lebte Charlie Chaplin noch in den USA und heiratete etwas später seine grosse Liebe Oona O’Neil, einzige Tochter des US-amerikanischen Dramatikers Eugene O’Neil und Agnes Boulton.
Die vielen Gesichter des Charlie Chaplin
Ab 1947 wurde Chaplin Opfer von Anhängern des McCarthyismus, die ihn beschuldigten mit Kommunisten zu verkehren. Nach einem London-Aufenthalt, wo der Schauspieler seinen letzten Film vorstellte, liess die Staatsanwaltschaft ihn 1952 nicht mehr in die Vereinigten Staaten einreisen und machte dem Künstler fortan das Leben schwer. Charlie Chaplin wanderte als politischer Flüchtling mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern in die Schweiz aus. In seinem Anwesen Manoir de Ban in Corsier-sur-Vevey am Genfersee lebte der Künstler gemeinsam mit seiner Familie bis zu seinem Tod am 25. Dezember 1977.
Facettenreich und voller Widersprüche, so präsentieren die Regisseure Middleton und Spinney ihre Version des Tramps in «The Real Charlie Chaplin». Interessant und informativ ist der Film sowohl für Stummfilm-Kenner und Chaplin-Liebhaber als auch für jene, die das Genre und ihre Künstler gerade erst entdecken.
- The Real Charlie Chaplin (UK, 2021)
- Regie: Peter Middleton, James Spinney
- Produktion: Archer’s Mark, BFI Film Fund, Fee Fie Foe Films
- Länge: 114 Minuten
- Kinostart: nicht bekannt
- Quellenangaben:
- Chaplin Charlie (1940): The Great Dictator, USA, Charles Chaplin Productions
- Butler Ivan (1987): Silent Magic, Columbus Books Limited, London
- Müller Corinna (2003): Vom Stummfilm zum Tonfilm, Wilhelm Fink Verlag, München