Die Feder als Schwert
Die junge Journalistin Shiori Itô, Leidtragende einer schweren sexuellen Attacke, wagt sich erst nach fünf Tagen auf einen Polizeiposten. Als sie dort aus Mangel an Erinnerungen und Beweisen quasi verhöhnt und abgewimmelt wird, wendet sie sich an die Öffentlichkeit – und erntet von allen Seiten Beschämungen. Höchste politische Kreise legen ihr Steine in den Weg, potentielle Verbündete zieren sich aus Angst vor beruflichen und sozialen Repressalien. In ihrer Verzweiflung greift sie zur einzigen Waffe, die ihr geblieben ist: die Feder. Akribisch hält sie alle Stationen ihrer beschwerlichen Reise in Bild und Ton fest, und gerät dabei gefährlich nahe an den Rand des Abgrunds.
Immer jemandes Tochter
«Black Box Diaries» wird vielerorts als das japanische Me-Too gehandelt, doch Itôs Fall greift tiefer. Während die Frauenrechtsbewegungen im Westen schon viel erreicht hatten, galt im Land der aufgehenden Sonne ein 110-Jahre-altes Gesetz, das es de facto verunmöglichte, Vergewaltigungen strafrechtlich zu verfolgen. Hinzu kamen behördlicher Unwille, Klagen der Opfer ernst zu nehmen sowie die Erwartung der Gesellschaft, Übergriffe stillschweigend zu erdulden, weil es sich angeblich nicht ziemte, gegen etablierte Strukturen aufzubegehren. Eine haarsträubende Ausgangslage, trifft es am Ende doch immer jemandes Tochter, Schwester, Mutter, Freundin oder Ehefrau.
Noch ist unklar, ob die Dokumentation in Itôs Heimatland gezeigt werden darf – ausgerechnet dort, wo eine Aufführung am dringlichsten wäre. Japan – eine Nation zwischen Tradition und Fortschritt – wird die Aufarbeitung nicht leichtfallen, doch der erste Stein in der Mauer des Schweigens fehlt. Bei ihrer Pressetour wirkt Itô indes nicht zornig oder verbittert, sondern gelöst und dankbar darüber, dass ihre Geschichte bei Millionen auf offene Ohren stösst. Sie hat zumindest eins wieder unter Beweis gestellt: Eine einzelne Person, die entschlossen genug ist, kann einen Unterschied bewirken und einen positiven Wandel anstossen.
Ein 110 Jahre altes Gesetz, 8 Jahre Kampf und die Japanische Mauer des Schweigens. Das Streben einer jungen Frau nach persönlicher Genugtuung wird zu einem Feldzug für gesellschaftlichen und juristischen Wandel. Nüchtern und bewegend zugleich.
- Black Box Diaries (USA, UK, Japan) 2024
- Regie und Drehbuch: Shiori Itô
- Besetzung: Shiori Itô
- Laufzeit: 102 Minuten
- Schweizer Kinostart: 31. Oktober