«Ich mochte Thatchers Politik überhaupt nicht»
Bäckstage traf die talentierte britische Filmemacherin Sally Potter (63) im Zürcher Hotel Rössli zum Gespräch über ihren neuen Film «Ginger & Rosa». Dabei verriet uns Potter nicht nur ihre politische Meinung und Haltung, sondern äusserte sich zudem über die fehlenden Frauenfilme in der Kinowelt und verriet, welchen Einfluss ihre Eltern auf ihre Karriere und Berufswahl hatten.
Wie empfanden Sie die Reaktionen des Publikums heute, an der Vorpremiere von «Ginger & Rosa» in Zürich? War sie anders als zum Beispiel in den Vereinigten Staaten?
Jedes Publikum ist anders, trotzdem gibt es eine gewisse universelle Resonanz. Das Publikum heute war meiner Meinung nach sehr aufmerksam und fokussiert. Mir wurden ein paar seltene Fragen zum Film gestellt, die ich zuvor noch nie beantworten musste. Ja, es war eine wirklich sehr gute Atmosphäre spürbar.
Sie haben bei «Ginger & Rosa» nicht nur Regie geführt, sondern auch gleich selbst das Drehbuch geschrieben. Was hat Sie zu dieser Geschichte inspiriert?
Es ist für mich immer noch ziemlich mysteriös, woher die Geschichten wirklich kommen, die ich erzählen möchte. Wenn ich mich zum Schreiben hinsetze, könnte irgendetwas daraus entstehen (lacht). Ich starre dieses leere weisse Papier an und stelle mir den fertigen Film im Kopf vor, spiele ihn geistig ab. Grundsätzlich schreibe ich dann nieder, was ich sehe. Die Zeit, die ich in «Ginger & Rosa» beschreibe, anfangs der 60er Jahre in London, diese Zeit habe ich als junges Mädchen (Potter war damals 13 Jahre alt, Anmerkung der Redaktion) selbst erlebt. Die grundsätzliche Idee war es, eine Geschichte zu erzählen, die Persönliches mit Politischem verbindet. Die grosse Welt draussen mit all ihren Konflikten und die eigene Welt, in jedem einzelnen, mit ihren eigenen Konflikten. Die meisten Menschen besitzen stärkere Gefühle gegenüber ihrem persönlichen Leben, als über Dinge, die am anderen Ende der Welt passieren. Aber tatsächlich ist alles miteinander verbunden. Diese Verbindungen und Parallelen wollte ich behandeln.
Was ist zwischen der Zeit, wie Sie sie im Film nacherzählen und Ihren eigenen Erinnerungen über diese Zeit anders?
Oh, tausend Dinge. Wenn eine fiktive Geschichte erzählt wird, kann die Erinnerung als eine Art Datenbank genutzt werden, um Authentizität und Wahrhaftigkeit zu schaffen. Ab einem gewissen Punkt jedoch fangen diese erfundenen Figuren an, mit einem zu sprechen (lacht). Die Dinge verlaufen dann in eine völlig andere Richtung. Ich versuche die Geschichte so glaubwürdig wie möglich zu erzählen und von den Klischees und Stereotypen wegzukommen, dabei helfen mir meine Erinnerungen. Ich wuchs in einer Welt auf, die sich nicht komplett von der im Film vorgestellten unterscheidet. Gewisse Personengruppen und Szenen waren mir sehr bekannt.
Ihre Mutter war Englischlehrerin, Ihr Vater Innenarchitekt, der Gedichte veröffentlichte. Wie autobiographisch ist die Story?
Gewisse Aspekte, Personen und Gruppierungen sind vielleicht autobiographisch gefärbt. Diesen Teil der britischen Gesellschaft, der liberale, freidenkerische Teil. Ihn sieht man heutzutage nicht mehr so oft auf der grossen Leinwand. Sie waren verwirrt, machten Fehler, aber sie versuchten auch die Dinge am Laufen zu halten, auf eine andere Art und Weise zu leben und zu denken. Normalerweise fokussieren sich britische Filme auf die Upper Class, also das Königshaus oder die sehr stereotypisierte Arbeiterklasse. Die ganze alternative Szene geht dabei völlig vergessen, wie ich finde.
Wie sehr hat Sie die Zeit damals verändert? Waren Sie auch politisch aktiv, wie die von Elle Fanning porträtierte Hauptfigur Ginger?
Ja, ich war ebenfalls politisch aktiv, das ist beispielsweise autobiographisch. Ich war ebenfalls auf den Protestmärschen und es war mir sehr bewusst, was sich auf der Welt ereignete. Ich hatte sehr mit der Frage zu kämpfen, was ich als einzelne Person verändern konnte. Diese Protestmärsche waren die ersten grossen Protestaktionen in Grossbritannien. Es war sozusagen das Äquivalent zum arabischen Frühling heute. Später folgte dann die Frauenbewegung, die Bürgerrechtsbewegung und viele weitere. Aber diese Friedensmärsche waren die ausschlaggebende Bewegung, bei der sich die Leute zusammentaten und aktiv wurden, um etwas politisch und gesellschaftlich zu bewegen. Signifikant. Um die Welt zu retten.
Trug Ihre politische Haltung dazu bei, dass Sie schliesslich eine Künstlerin wurden?
In meinen Augen war ich schon immer eine Künstlerin. Ich mache nie die Unterscheidung zwischen meiner Person heute und meiner Person damals als zeichnendes oder schreibendes Kind, als filmemachender Teenanger. Für mich ist das eine ganze einheitliche künstlerische Phase. Künstler ist man meiner Meinung nach nicht erst als Erwachsener, sondern bereits als Kind. Elle Fanning zum Beispiel war 13 Jahre alt als wir den Film drehten. Sie spielte eine 16-, 17-Jährige Figur, aber sie war erst 13 Jahre alt, was ich als sehr jung empfinde. Aber sie war damals bereits eine sehr ernsthafte und seriöse Künstlerin, die zufällig nun mal erst 13 war. Aber das war nicht ihre Frage. Ihre Frage war, was mich dazu führte, künstlerisch aktiv zu werden. Nun ich denke, dafür ist in erster Linie meine Familie verantwortlich. Sie zeigte mir und lebte mir vor, dass es etwas Anständiges und Wertvolles war, ein Gedicht zu schreiben oder eine Zeichnung zu malen. Aber es benötigt sehr viel Arbeit und Disziplin um wirklich gut zu werden. Diese Botschaft nahm ich von zu Hause mit. Zusätzlich wurde ich sehr darin ermutigt mich künstlerisch zu entfalten. Meine Mutter schaute sich meine Malereien an als ich noch 3, 4, 5 Jahre alt war und pflegte zu sagen «Hmm, das ist sehr interessant, was Du gemacht hast …». In dieser Hinsicht hatte ich sehr, sehr viel Glück.
Waren Sie jemals verunsichert, ob Elle Fanning die richtige Wahl war, aufgrund ihres doch sehr jungen Alters?
Nein, überhaupt nicht. Ich sah gefühlte 2‘000 Mädchen bei den Castings und traf etwa 200 von ihnen mehrmals. Dann traf ich Elle einen halben Tag in Los Angeles und arbeitete mit ihr an einigen Szenen. Da war mir absolut klar, dass sie die Richtige ist und ich bot ihr die Rolle sofort an.
Wie war die Zusammenarbeit mit den jungen Hauptdarstellerinnen? Mussten Sie ihnen viele Anweisungen geben?
Nichts kommt von alleine. Natürlich wird ein gewisses Talent vorausgesetzt, sonst kann man überhaupt nichts tun. Aber harte Arbeit ist und bleibt das einzige Mittel, das zu einer guten Leistung führt. Wir hatten bereits sehr, sehr viel im Vorfeld geübt. Aber wir hatten auch eine wundervolle Zeit, ich mochte es sehr. Die beiden waren sehr mutig. Es herrschte eine sehr herzliche Atmosphäre am Set. Aber ja wir haben sehr viel Zeit in die Vorbereitungen gesteckt.
In «Ginger & Rosa» scheint die Musik wichtig zu sein. Die Gefühle von Fannings Figur lassen sich häufig auch durch die gespielte Musik nachempfinden.
Die Idee hinter der Musik war es, die Musik zu spielen, die diese Leute hören würden. Es gibt demnach keinen filmeigenen Score, nur die Musik aus Musikboxen, Plattenspieler und dem Radio. Musik sollte die Haltung, die Bestrebung der Figuren widerspiegeln. Jazz war deshalb sehr wichtig und kam häufig vor. Dieses bluesige Gefühl, das sich nicht in Worte fassen lässt. Die Musik wurde deshalb äusserst sorgfältig handverlesen für jeden einzelnen Charakter ausgewählt.
Mädchen sind nicht alle zuckersüss, sondern häufig auch bitter und sauer.
«Ginger & Rosa» behandelt eine Frauenfreundschaft. Weshalb sind solche Filme immer noch derart selten? Inwiefern unterscheiden sie sich Ihrer Meinung nach von Männerfreundschaften?
Es gibt sehr viele Themen, die nicht auf der Kinoleinwand behandelt wurden. In dieser Hinsicht denke ich, dass ein grosses Missverständnis darüber herrscht, was passiert, wenn eine Frau zur Protagonistin wird. Viele denken, der Film hätte dann keine Chance und sowieso ein kleineres Publikum. Das empfinde ich als sehr beleidigend. Als ich aufwuchs sah ich tausende von Filmen oder las hunderte Bücher mit männlichen Hauptfiguren. Ich liebte sie und konnte mich in sie hineinversetzen. Dabei kam es mir nie in den Sinn, dass das Gleiche umgekehrt nicht funktionieren könnte, dass Jungs nicht an einer Geschichte mit weiblichen Heldinnen interessiert sein könnten. Es ist doch völlig natürlich gleichermassen am anderen, wie auch am selben Geschlecht interessiert zu sein. Es gibt aber leider nicht genügend Werke, die zeigen wie kompliziert und zugleich komplex Mädchen sind. Viele Stories zeigen Mädchen zu oberflächlich. Als würden sich Mädchen nur um Kleider und Romanzen kümmern. Die Realität sieht dabei doch völlig anders aus. Sie interessieren sich für Kleider, Jungs UND Gott, Politik, Krieg und so weiter. Mädchen können zudem auch sehr bösartig einander gegenüber sein. Sie sind nicht alle zuckersüss, sondern häufig auch bitter und sauer (lacht). Es gibt also noch viele Geschichten, die erzählt werden müssen über uns Frauen.
Im Vergleich zu Ihren anderen Werken ist dieser Film sehr zugänglich.
Ich habe versucht einfach, simpel, direkt und offen zu sein. Habe versucht herauszufinden, ob dies für meine Arbeit funktioniert, ich etwas erschaffen kann, das zugänglicher ist. So weit, so gut, es scheint funktioniert zu haben (lacht). Das war für mich eine grosse Lektion.
Margaret Thatcher ist kürzlich gestorben. Wie empfanden Sie als Britin diese Nachricht?
Es ist erstaunlich. Gestern sah ich grad in allen Zeitungen riesige Fotografien von ihr. Es wird sehr viel über sie berichtet und geschrieben. Faszinierend ist, dass sich die Meinungen immer noch total unterscheiden. Zum einen gibt es diese Leute, die sie für die grösste Premierministerin aller Zeiten halten. Journalisten, die schreiben, dass Thatcher England vor dem Verfall gerettet habe etc. Andere wiederum vergleichen sie mit einer bösen Hexe. Berichten, dass sie destruktiv war, vieles zerstörte, was zu den besten Dingen Grossbritanniens gehörte. Sie war eine sehr polarisierende Persönlichkeit. In vielen Dingen auch eine symbolische Figur, deshalb sind einige der Reaktionen betreffend ihres Todes auch ein wenig irrational. Besonders jene, die sich gegen sie als Person wenden, sie als Person hassen. Es gibt einen Unterschied, sie als Politikerin oder als Person anzugreifen. Ich konnte grösstenteils überhaupt nichts mit ihrer Politik anfangen. Sie unterstütze Habgier, Privatisierung, alle möglichen Sachen, die sich als destruktiv herausstellten. Aber dies bedeutet noch lange nicht, dass ich sie als menschliches Individuum angreifen kann, dies erscheint mir nicht richtig. Sie war einzigartig, soviel ist sicher. Ein waschechtes Phänomen.
Die Downloads des «The Wizard of Oz» (nicht zu verwechseln mit dem laufenden Prequel «Oz, the Great and the Powerful», Anmerkung der Redaktion) Songs «Ding Dong the Witch is dead» haben nach Thatchers Tod stark zugenommen.
Ja, davon habe ich auch gelesen. Ich finde das sehr gefährlich, sie eine Hexe zu nennen. Unbewusst trägt dies nur zur Sichtweise bei, dass alle mächtigen und einflussreichen Frauen bösartig seien. Darum ging es schliesslich bei der Hexenjagd. Es handelte sich um Frauen, die Wissen über Medizin besassen und deshalb auch einen gewissen Einfluss ausüben konnten. Das finde ich deshalb sehr schrecklich und kann solche Witze überhaupt nicht tolerieren. Es ist überhaupt kein Witz, im wahrsten Sinne nicht. Es hat mich überrascht wie viele Menschen darauf eingestiegen sind. Eben, obwohl ich ihre Politik hasste. Aber man muss die Politik von der Person trennen, besonders wenn es sich um eine weibliche Führungsperson handelt. Obwohl sie nicht unbedingt die Türen für Frauen in der Politik geöffnet hat, meiner Meinung nach jedenfalls nicht. Ich sah sie eher als das Sprachrohr für die Männer hinter ihr. Das ist eine sehr komplizierte Angelegenheit in der britischen Politik, also wo genau sich die wahre Macht befindet.
Unsere Kritik zu «Ginger & Rosa» findet ihr HIER.