NIFFF 2019: Adrenalin, Hochspannung und Liebeskummer
Die 19. Ausgabe des Neuchâtel International Fantastic Film Festival bot viel Adrenalin, Hochspannung, Ekstase, Kuriositäten, fliegende Gliedmassen, verzankte Familiengeschichten und alltägliche Sorgen wie Liebeskummer. Unsere Redakteurin hat in drei Tagen 17 Filme verschlungen und viel Schlaf ausgelassen. Um diesen endlich nachzuholen, werden die Filme in sehr kurzer Manier vorgestellt. Vorneweg aber eine kleine Nennung gewisser Themenschwerpunkte des diesjährigen NIFFFS, quasi wiederkehrende Charakteristiken, die über das Festival hinweg in mehreren Filmen zu finden waren::
- Puppenhäuser: Seit Ari Asters «Hereditary» erfreut sich dieses Motiv grosser Beliebtheit. Sowohl in «The Lodge», «Knives and Skin» und auch bei «Daniel isn’t real» (so wurde uns berichtet) kamen sie vor.
- Verzankte Vater-Sohn Beziehungen: In «Come to Daddy», wie auch bei «His Master’s Voice» und irgendwie auch bei «Skin» suchen die Söhne nach der sinnstiftenden Vaterfigur.
- Porzellanfiguren und anderer Kleinkram wird neuerdings von weiblichen Figuren in nicht dafür vorgesehene Körperöffnungen eingeführt. So gesehen bei «Swallow» und «Knives and Skin».
- Böse Quarterbacks und lesbische High School-Gängerinnen: «Riot Girls» und «Knives and Skin».
- Tatort Schul-Toilette: Ein Ort, der für Grauen sorgt in «Riot Girls», «Exterminadores do Além Contra a Loira do Banheiro» und «Achoura»
Die Filme werden nachfolgend in der konsumierten Reihenfolge aufgelistet.
Film 1: «Jesus shows you the way to the Highway» von Miguel Llansó
Liebeswertig umgesetzter Film, in dem mutmassliche CIA-Agenten in einer virtuellen Realität gegen böse Sovjetspione kämpfen. Von der Machart erinnert das Werk ein wenig an Michel Gondry. Passt für Zuschauer, die gerne alte Video Games spielen und es vermögen, verschachtelten Storylines zu folgen. Einziger Minuspunkt: In der Kürze liegt die Würze.
Film 2: «Riot Girls» von Jovanka Vuckovic
Alle Erwachsenen sind seuchenbedingt tot. Die überlebenden Teenies sorgen nicht für eine neue Klimapolitik, sondern für Bandenkriege. «O.C. California» trifft auf «Lord oft he Flies». Für jüngeres Publikum sehenswert.
Film 3: «Swallow» von Carlo Mirabella-Davis
Dieser Ausnahmefilm erzählt die Geschichte eine perfekten Hausfrau, die nicht nur ihren Frust, sondern allmählich auch Kleinkram wie Nägel, Batterien und Porzellanfiguren runterschluckt. Eine feinfühlige Charakter- und Gesellschaftsstudie, umgesetzt mit einer hinreissenden Hauptdarstellerin (Haley Bennet) und eingefangen durch atemberaubende Kameraführung und Set-Design. «Swallow» räumte völlig zurecht und ohne nennenswerte Konkurrenz den Kritikerpreis ab. Besonders berührend war die Q&A mit Drehbuchautor und Regisseur Carlo Mirabella-Davis, der sich von der Lebensgeschichte seiner Grossmutter inspirieren liess. Einer der Höhepunkte des diesjährigen NIFFF.
Film 4: «Something Else» von Jeremy Gardner und Christian Stella
Hank liebt Abby. Abby liebt Hank. Soweit, so gut. Aber als Abby eines Tages unangekündigt verschwindet, bricht in Hank, aber auch um Hank herum, Chaos aus. Zum einen muss Hank sich mit unsäglichem Liebeskummer herumschlagen, zum anderen bedroht just jetzt (welch Ironie) eine unnatürliche Kreatur sein Anwesen. Für was diese Kreatur wohl sinnbildlich steht? «Something Else» lernt Filmliebhaber eine wichtige Lektion: Manchmal braucht es eine entscheidende Person, um den Film zum funktionieren zu bringen. In diesem Falle Jeremy Gardner. Keinem anderen hätten wir lieber beim Versinken im Selbstmittleid zugesehen, keinem anderen hätten wir derart fasziniert beim extravaganten Q&A in Neuchâtel zugehört. Er ist eine One-Man-Show wie sie im Buche steht. Und umso beeindruckender ist es, dass die eine grosse Monolog-Szene, in der alles still steht, von Abby vorgetragen wird, ohne Show-Stealing seitens Hank/Gardener, der den Film ansonsten 90 Minuten lang souverän trägt. It’s all about Timing. Auch am Schluss dieser Perle.
Film 5: «Exterminadores do Além Contra a Loira do Banheiro» von Fabrício Bittar
Wir alle lieben die Ghostbusters. Auch die Brasilianer, die eine unverschämt witzige Horror-Komödie über Geisterfänger liefern. Hier werden Tabus am Laufmeter gebrochen, der gute Geschmack glänzt durch Abwesenheit und ob wir es wollen oder nicht, der Film wird uns noch lange in Erinnerung bleiben. Es gibt Bilder, die bringen wir nun nicht mehr aus unserem Kopf. Sei es ein killender Fötus, ein besessener Gaggi (ja Gaggi, ja), ein festklebendes Kondom. Es gibt nichts, was hier verboten oder zensiert wurde. Für einen Mitternachtsfilm am NIFFF die richtige Wahl.
Film 6: «Come to Daddy» von Ant Timpson
Elijah Wood, einmal mehr in einem schrägen Genre-Film. Dieses Mal von Trash-Produzent Ant Timpson. Frodo zeigt sich als Grosstadt-Hipster mit Daddy Issues. Eigentlich eine irrsinnig gute Ausgangssituation. Die dann aber in einem gewaltreichen Thriller mündet, statt die zu Beginn köstliche Spannung aufrechtzuhalten. Höhepunkt: die «Wir kennen beide Elton John»-Szene. Ja, Spannung geht auch ohne Ballerei. Hoffen wir Ant bleibt das nächste Mal länger an den für ihn untypischen, atmosphärischen und ruhigen Szenen.
Film 7: «His Master’s Voice» von György Pálfi
Leider bekommen wir die Zeit nicht mehr retour, welche in diesen unsäglichen Film investiert wurde. Daher hier nichts weiter ausser: Don’t watch this movie. Wessen Neugierde jetzt geweckt ist und googeln möchte: Ostblock Junge sucht Daddy, der hat aber was mit der NASA gemacht und dann gibt es weit entfernt Ausserirdische, die was in der Galaxy sprengen wollen (irgendwo weit weg) und der junge Mann hat Beziehungsprobleme mit einer Frau. Alles wirr und doof.
Film 8: «Yves» von Benoit Forgeard
Französische Komödien sind zuweilen eher schwierig, insbesondere wenn wild herumgezappelt und übertrieben reagiert wird wie in «Bienvenue chez les Ch’tis». «Yves» ist davon nicht gänzlich befreit, reüssiert aber indem er (als einer der wenigen NIFFF-Filme dieses Jahr) eine hochaktuelle Thematik anspricht: Wie viel Google-Assistent möchten wir in unserem Leben und was kriegen wir alle (auch der Google-Assistent) davon? Und so ist der titelgebende «Yves» kein Mensch, sondern ein Kühlschranke mit Herz und Verstand. Künstlerischer Höhepunkt: Eurovision mit Haushaltsgeräten als singende Barden: die Espressomaschine aus Italien, der Staubsauger aus Portugal, die Waschmaschinen aus Deutschland.
Film 9: «The Fable» von Kann Eguchi
Das NIFFF bietet auch einen asiatischen Filmwettbewerb und der Sieger dessen stammt aus Japan und heisst «The Fable». Der Gute-Laune-Streifen erzählt von einem überarbeiteten Auftragskiller, der gezwungenermassen ein Sabbatical machen muss. Dass er dabei nicht ganz inaktiv zu bleiben vermag, versteh sich von selbst. So entdeckt der Killer unter anderem sein Talent zum Zeichnen. Aussergewöhnliche Stunts, rasante Action, liebevolle & sympathische Figuren und ein charmanter Humor machen diesen Film zum Must-See.
Film 10: «The Lodge» von Veronika Franz und Severin Fiala
Alicia Silverstone («Clueless») spielt mit. Grund genug, sich diesen Film anzusehen. Ein weiterer Pluspunkt ist die «Zuschauerbelohnung». Wer sich Puppenhauskonstellationen merken kann, kommt ruhiger und nervlich weniger angestrengt durch den Film. Sprich die Aufmerksamen werden belohnt. Und trotz ein paar Jump-Scares bleibt der Film dem klassischen Horror treu und so ist das Grauenhafte in unserem Kopf und nicht wirklich auf der Leinwand. Kurz zur Story: Die Stiefmutter haust zwei Tage lang allein mit den Kindern ihres Partners mitten in der Wildnis. Dumm nur, hat sie eine traumatische Kindheit mitsamt Todessekte hinter sich, weshalb sie nervlich nicht immer fit ist.
Film 11 «Bliss» von Joe Begos
Der zweite Film mit NIFFF-Liebling Jeremy Gardner. Hier spielt er aber nur die zweite Geige. Im Zentrum steht Malerin Dezzy, die mit ihrem grossen Kunstwerk nicht vom Fleck kommt und in der Kreativitätssackgasse steckt. Bis sie sich mit Drogen zudröhnt, gewalttätig wird und einen auf Vampir-Lady macht. Viel Splatter, viel Gore, viel guter Heavy Metal / Punk. Ein Rausch von einem Film, erinnert bisweilen mehr an einen Videoclip als an einen Film, aber dies tut dem Genuss keinen Abbruch.
Film 12 «The Rise of the machine Girls» Yuki Kobayashi
Während «The Fable» das für den Westen sehr zugänglich Japan darstellt, ist «Rise of the machine Girls» genau jener Film, der viele abschreckt und distanziert. Wegen der überdrehten Gewalt, wegen der Kameraführung zwischen den Beinen der Protagonistinnen, wegen des politisch unkorrekten Behinderten-Lustigmacherei. Es ist ein Stück Japan, das wegen seiner Absurdität fasziniert und schockiert. Dass hier zwei «verkrüppelte» Frauen aus ihrer ärmlichen Situation entfliehen wollen und dabei viel Power und Souveränität zeigen, geht komplett verloren. Tja.
Film 13: «Knives and Skin» von Jennifer Reeder
Ein Mädchen verschwindet. Und «Twin Peaks»-mässig lernen wir während der Suche nach ihr Stück für Stück das Kleinstädtchen, aus dem sie kommt, kennen. Die einen tief in der Teenie-Angst, die anderen mitten in der Mid-Life-Crisis. Kein schönes Bild, umso grösseres Lob gebührt dem neonfarbenen, märchenhaft eingefangenen Szenenbild. Bester Moment: Junge steht auf dem Dach. Mitschüler rennen auf den Platz und bitten ihn runterzukommen und sich nicht das Leben zu nehmen, den es ist schon so schlimm genug, ohne einen weiteren Toten. Junge entgegnet, er wissen dies, ihm gehe es genau gleich und deshalb stehe er dort oben. Nicht um sich umzubringen, sondern um auf die Autobahn zu blicken, weil diese ihm die Hoffnung bringt, von hier verschwinden zu können.
Film 14: «Extra Ordinary» von Enda Loughman und Mike Ahern
Sowohl der Hauptpreis wie auch der Publikumspreis gehen dieses Jahr nach Irland für die Geister-Komödie «Extra Ordinary». Rose, die Tochter eines verstorbenen Mystikers und TV-Stars, muss sich ihren übernatürlichen Kräften stellen, indem sie zwischen Menschen- und Geisterwelt vermittelt. Der Film brilliert durch seine Unaufgeregtheit, seinen 80-90er Stil, sowie mit trockenem und schwarzem Humor. Für NIFFF-Standards schon ein fast mainstreamtauglicher Film.
Film 15: «Achoura» von Talal Selhami
«IT» auf nordafrikanisch. In Marokko sorgt ein kinderfressendes Monster für Angst und Schrecken. Vier Freunde müssen sich ihrer Vergangenheit stellen und neu zusammenfinden, um das Gespenst ihrer Kindheit zu besiegen. Ein handwerklich perfekt inszenierter Film, der fesselt und berührt.
Film 16: «Skin» von Guy Nattiv
Die wahre Geschichte des Skinhead-Aussteigers Byron, gespielt von Jamie Bell. Der Film zeigt in bedrückender und beklemmender Art den steinigen Weg eines Bekehrten. Grossartige Leistung - sowohl vor wie auch hinter der Kamera. Während der Award Season werden wir noch viel über diesen Film hören und sehen.
Film 17: «Tone-Deaf» von Richard Bates Jr.
Millennial-Mädchen bucht via Airbnb das Anwesen eines Baby Boomers, der sie umbringen möchte. Der Film besitzt Ironie, nimmt sich aber nicht so unernst wie er es gerne vorgaukeln möchte. Irgendwie ist der Film selbst sehr hipsterig. Versucht cool und klever zu agieren, besitzt auch ein paar gute Jokes, aber irgendwie fehlen hier noch ein paar Ecken und Kanten. Die überzeichneten Figuren machen es auch nicht einfach mitzufühlen. So entsteht wiederum keine wirkliche Spannung, da man mit niemanden so richtig mitfiebern möchte. Naja. So lala. Gut, nach 17 Filmen hat man vielleicht auch einfach nur eine Übersättigung als Zuschauerin.