Ein respektvoller Drahtseilakt

Interview mit Autorin Shqipe Sylejmani
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Pressebild / ©Valentina Pezzo

Jeder Mensch hat einen Ursprung, eine Familiengeschichte, die individuell mehr und weniger prägend ist. Als ausgebildete Journalistin hat Shqipe Sylejmani schon viele Orte der Welt gesehen und beispielsweise in New York gelebt. Ihre eigenen Wurzeln kannte die Autorin, die heute in Zürich wohnt, lange nicht so richtig. Geboren wurde sie in Pristina, der Hauptstadt der Republik Kosovo. Als sie drei Jahren alt war, zog die Familie in die Schweiz und ab da wuchs Shqipe in Pratteln auf. Das Leben als Mädchen in einem fremden Land, dessen Sprache sie lernen musste, und die damit verbundenen Herausforderungen bzw. Gedanken haben sie mit circa 30 Jahren auf die Suche nach den Spuren ihrer Familie durch den Kosovo geführt. Diese Reise zu zauberhaften Orten und mit allen möglichen menschlichen Erlebnissen ist der Ursprung zum Debüt «Bürde & Segen», das 2020 erschienen ist. Die Hauptfigur ist eine junge Frau mit Namen Shote, die mit drei zufälligen Bekanntschaften durch die Regionen auf dem Balkan reist, die landschaftliche Schönheit und einen bisher unbekannten Teil ihrer Identität entdeckt. Natürlich ist dabei einiges persönlich. «Ich habe eine Version in der dritten Person geschrieben, aber es hat sich falsch angefühlt. Mein Gefühl war, dass automatisch ein Teil von mir einfliessen wird, so aber die Emotionen den Lesenden näher gebracht werden», unterstreicht Shqipe Sylejmani.

 

Das Buch wurde ein grosser Erfolg, steht heute etwa in in der Bibliothek der Elite-Universität Harvard und hat viele Menschen mit ähnlichen Erfahrungen berührt. Bald erhielt Sylejmani Rückmeldungen aus der albanischen Diaspora auf der halben Welt. «Ich war überwältigt und erstmals wurde mir bewusst, dass es nicht nur mir so geht», erklärt die heute 34-Jährige. Langsam reifte der Gedanke, zu einem zweiten Buch. Diametral zum Debüt reiste die Autorin jetzt nicht mehr auf der symbolischen Landstrasse zurück zu sich selbst, sondern brach auf, um Menschen und ihre Geschichten kennenzulernen und ihnen eine Stimme zu geben. Das war gar nicht so einfach, denn Erlebnisse und Schicksale sind ein sehr persönliches Gut. Sylejmani war unbedingt wichtig, einfühlsam und behutsam mit den ihr anvertrauten Erzählungen umzugehen. So wurde das zweite Buch «Würde & Vergebung» ein respektvoller Drahtseilakt.

 

Aufwändigere Recherche für das zweite Buch

 

Die Arbeit am zweiten Roman wurde aufwändiger als noch beim Debüt. Nach den Recherchen der Geschichten musste gestrichen werden. «Ich wollte lieber weniger Geschichten einfliessen lassen und ihnen dafür den gebührenden Platz geben. Es war mir wichtig, dass die Erzählungen sich innerhalb der Geschichte entfalten konnten», betont Sylejmani. Andernfalls wäre das Buch schon bald um 600 Seiten dick gewesen. Wann immer Zeit war, reiste die Autorin also in Länder wie die Türkei oder die USA und sprach mit Mitgliedern der albanischen Diaspora, erfuhr nicht nur Geschichten, sondern auch immer mehr darüber, wie es Menschen ergangen ist, die aus verschiedenen Gründen ihr Land verlassen haben. «Manche sind seit mehreren Generationen im Ausland, andere seit dem Balkankrieg», unterstreicht sie und ergänzt: «Mich hat extrem gereizt, ihre Erfahrungen zu hören».

 

Dabei half vermutlich, dass Sylejmani verstand, wie es in den Menschen aussieht. Sie selbst hat am eigenen Leib erfahren, dass sie viel zu oft nicht dazu gehörte, sich irgendwann dachte, dass sie ihren Platz nicht verdienen würde. Das alles, obwohl sie sich stark engagiert, etwa beim Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Pratteln eingebunden war. Dabei haben viele in ihrem Umfeld erst durch den mutigen Debütroman erfahren, wie sie sich gefühlt hat. Vielleicht sind daher beide Bücher eine Hilfe für viele Menschen, die zwar hier leben und gut integriert sind, sich aber durch ihre Wurzeln nie so richtig angekommen fühlen. «Meine Eltern haben zum ersten Mal verstanden, was ich für ein Leben in der Schweiz hatte», erklärt Sylejmani und betont damit, dass «Bürde & Segen» es vielleicht auch anderen Menschen ermögliche, sich langsam mit der Thematik zu beschäftigen, ohne sofort reagieren zu müssen.

 

Keine Macht mehr über die Hauptfigur

 

Zurück zum Zweitwerk «Würde & Vergebung». Nach dem sorgfältigen Sammeln möglichst vieler Daten, setzte sich Sylejmani an das Ausarbeiten des Manuskripts und schlüpfte wieder in die Haut der Hauptfigur Shote. Wobei das nicht so richtig stimmt, viel eher übernahm Shote die Autorin. «Mittlerweile ist Shote ein eigenständiger Charakter, der sich im ersten Buch gezeigt hat und im zweiten eine grosse Entwicklung durchmacht. Diese Entwicklung konnte ich viel weniger kontrollieren, als ich wollte», sagt Shqipe Sylejmani. Oft hätte sie die Figur gerne in eine bestimmte Richtung gewünscht, aber es habe sich unnatürlich angefühlt. «Inzwischen ist Shote eine Figur, die ich so gut kennengelernt habe, wie wenn sie eine enge Freundin wäre», fügt sie an. Diese Entwicklung hat ihr als Autorin aber auch Macht genommen. «Ich kann sie in eine Situation bringen und dann schauen, wie sie sich verhält und das ins Buch adaptieren. Aber bestimmen, in welche Richtung sie geht, ist gar nicht mehr möglich», ergänzt Sylejmani. Irgendwann musste sie sich selbst den Raum erlauben, um Shote als Charakter entfalten zu lassen. «Für mich ist die Arbeit an Shotes Geschichte eine Art Seelenschreiben. Es ist wie ein Film, der in mir abläuft und oft suche ich erst beim Feinschliff noch die richtigen Worte», sagt Sylejmani über den Schreibprozess.

 

Über vier Monate hinweg schrieb sie diszipliniert und hat sich dabei stark abgeschottet. Sie war so leidenschaftlich bei der Sache, dass ihre Familie und Freunde etwas zu kurz kamen. Daran erkennt man, wie wichtig ihr das Anliegen ist. «Beide Bücher sind eine grosse Adaption dessen, was ich erlebt habe. Nicht in jedem Detail. Manche Figuren sind aus mehreren Geschichten und Erlebnissen entstanden», betont sie. Die ersten Reaktionen auf das zweite Werk sind erneut positiv und emotional. So hat sich das konsequente Arbeiten gelohnt. Einziger Haken; es gibt noch viele Geschichten, die eigentlich erzählt werden sollten. Ob Shqipe Sylejmani also erneut in die Haut von Shote zurückkehrt oder die Geschichten auf andere Weise präsentiert, steht noch in den Sternen. Erstmal braucht die Autorin etwas verdiente Erholung.

 

 

* Dieser Artikel ist Teil einer Textpartnerschaft mit den Lokalzeitungen von zuerich24.ch

 

Bäckstage Redaktion / Mi, 21. Dez 2022