«Menschen verändert sich durch Liebe oder Kunst»

Interview mit Irvine Welsh
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© Tanja Lipak

Seit Erscheinen seines Kultromans «Trainspotting» gehört Irvine Welsh zum ungekrönten König der Underground-Literatur. Seine Erfahrungen als Junkie, DJ und Wahlamerikaner fliessen – so erscheint es – ungefiltert in seine Bücher. So manch einer stellt sich daher Irvine Welsh als abgedrehten, hibbeligen Schotten mit losem Mundwerk vor. Doch Welsh verkörpert ganz das Gegenteil seiner Protagonisten. Der Fanatiker für grünen Tee achtet auf einen gesunden Ausgleich, treibt sehr viel Sport (auch während des Interviews) und ist ein unbefangenes Comedy-Talent, wie seine Lesung im Botanischen Garten anlässlich des Openair Literatur-Festivals in Zürich zeigte. Dort stellte Welsh seinen neusten Roman «Kurzer Abstecher» vor, der sich einem geläutertem Franco Begbie widmet. Bäckstage traf den Kultautor zum Gespräch über Kunst, sein DJ-Hobby und das «Trainspotting»-Universum.

 

Irvine in deinem neusten Roman «Kurzer Abstecher» begegnen wir in den USA einen völlig neuen Francis - Franco – Begbie. Wie viel ist von deiner eigenen Zeit in den USA inspiriert?

 

Als ich wieder mit John (Hodge), Danny (Boyle) und Andrew (Macdonald) zusammenkam für die Verfilmung von «Porno», welche unter dem Titel «T2 Trainspotting» lief, zogen wir wieder zusammen in eine Wohnung und tauschten uns über die Charaktere aus. Ich dachte über Begbie nach und fragte mich, was passieren müsste damit seine Figur wieder Interesse in mir weckt. Zu dem Zeitpunkt nämlich war Begbie, um ehrlich zu sein, für mich als Figur gestorben. Er sorgte zwar für komische Momente, aber er war auch sehr flach und oberflächlich gezeichnet. Es brauchte eine Erlösung, einen Sinneswandel. Was wäre, wenn er sich plötzlich zur nettesten Person im Raum verwandeln würde? Und wodurch verändern sich Menschen? Entweder durch Liebe oder Kunst. Also warf ich ihm beides an, umgab ihn mit beidem, einer liebenden Familie und der Karriere als Künstler. Und dann dachte ich mir, «hmm, und was wäre nun, wenn er gar nicht so verändert wäre und alles nur Schein wäre? Wenn er vom heissblütigen Killer zum kaltblütigen Killer mutiert ist?». Ich steigerte mich da mehr und mehr hinein. Dieser Twist machte ihn wieder interessant für mich. Du liest das Buch und du erlebst wie er alles in Schottland zurücklässt und den Rücken kehrt, aber du weisst, dass alles wieder schnell kippen kann. Das lustigste Feedback, das ich von Lesern zu diesem Buch erhielt, war, dass sie beim Lesen anfingen Begbie zu mögen und sich das gar nicht so recht eingestehen wollten, aufgrund der Erfahrungen der letzten Bücher mit Begbie. (lacht)

 

Du reflektierst in deinen Büchern gesellschaftspolitische Themen. Neu auch den digitalen Wandel.

 

Technologie ist meiner Ansicht nach sehr deterministisch oder macht die Welt, in der wir leben, sehr deterministisch. Wir entwickelten uns von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft. Und jetzt arbeiten wir fast schon ein wenig isoliert von dort, wo immer wir wollen, machen Home-Office oder arbeiten gar nicht, verlieren aufgrund der Digitalisierung unsere Stellen oder verdienen viel weniger als zuvor. Alle Konsumgegenstände können heute aufgrund Skalierungseffekten und billiger Arbeitskraft für wenig Geld, praktisch nichts, erworben werden. Also sinkt wiederum deren Wert und wir kaufen - und immer häufiger - schlechte, billige Ware. Ein Teufelskreis. Aber Technologie hat auch einen Effekt auf die Beziehungen, welche sich nun verändern. Heutzutage gibt es in vernetzten Gesellschaften keine triftigen Gründe mehr für Hierarchie, für Geschlechterdiskriminierung und so weiter. Es gibt auch gute Entwicklungen, die wir weiter ausgestalten müssen.

 

Du thematisiert immer wieder die Rückkehr und das Verlassen. Renton verlässt Edinburgh und kehrt zurück, Begbie verlässt Edinburgh und kehrt zurück.

 

Mein ganzes Leben ist ein einziges Kommen und Gehen, daran hat sich noch nicht viel verändert. (lacht) Alle sagen, es verändert sich alles. Und dies stimmt auch, aber ich denke der Wandel ist in Edinburgh viel langsamer. Dies wurde mir bewusst als ich 10 Jahre lang in den USA lebte. Wenn ich 2 Wochen abwesend war, hat sich mein Quartier in Chicago schon stark verändert, Strassen wurden aufgerissen und umgelegt, Häuser renoviert. In Edinburgh passiert dies nicht so oft. Einige Menschen sind besser dran, andere schlechter, den Wandel in Edinburgh nehme ich viel schleichender wahr, auch wenn er dort ebenfalls stattfindet. Ein anderes Kommen und Gehen sind die «Trainspotting»-Sequels und -Prequels. Als ich mit 28 Jahren «Trainspotting» schrieb, also über eine Zeit als ich 24, 25 Jahre alt war, fiel mir dies unendlich schwer. Als ich mit 50 aber an «Skagboys» schrieb, also über meine Zeit als 21-Jähriger, fiel mir dies unendlich leichter, da ich emotional nicht so nach dran war als 50-Jähriger. Die 4 Jahre zwischen 24 und 28 erscheinen lang, aber ich habe mich sehr stark verändert in diesen 4 Jahren, weshalb es damals nicht einfach war, das vor 4 Jahren Geschehene wieder aufzusuchen.

 

Du bist in der Schule insbesondere in Literatur und bildnerischem Gestalten aufgeblüht. Wie viel von deinem eigenen Kunstgeschmack steckt in deinen Figuren und wie viel hast du ihnen dazu gedichtet, weil es zu ihrem Charakter passt?

 

Ich denke beides trifft zu, beides passiert. Der Grund dafür ist der, dass viel Unbewusstes im Schreiben passiert. Wie viel vom Beschriebenen hast du unterbewusst bei anderen Personen aufgenommen, wie viel entspringt aus deiner Fantasie? Das ist nicht immer einfach messerscharf zu trennen. Und man sollte es vielleicht auch nicht zu stark ergründen versuchen.

 

Welcher Schreibstil passt dir am meisten? In einigen Büchern wie «Kurzer Abstecher» haben wir den allwissenden Erzähler, bei anderen wiederum wechselt der Ich-Erzähler von Kapitel zu Kapitel wie bei «Porno».

 

Ich weiss nicht s recht. (lacht) Sie machen alle auf ihre Weise Spass. Den Text als eine Person zu schreiben, als deren Ich-Figur, ist sehr faszinieren. Dabei kann ich total gut abschalten, mich selbst fast vergessen und in eine Art Rollenspiel übergehen. Du erlebst die Welt aus den Augen dieser Figur, beim Schreiben und beim Lesen. Als allwissender Erzähler wiederum hast du viel mehr Kontrolle, besitzt einen Helikopter-Blick auf alle Geschehnisse und kannst entscheiden, wie viel du was an Zeit und Detail widmen möchtest. Beide Stile mag ich sehr und auch beide in einem Buch zu vermischen, finde ich sehr anregend als Autor und auch als Leser. In «Kurzer Abstecher» wird Begbies Kindheit als Ich-Erzählung dargestellt, dies macht ihn viel menschlicher und zugänglicher als wenn es via den allwissenden Erzähler formuliert gewesen wäre. Diese Stilmittel habe ich bewusst gewählt. Genreautoren schreiben sehr gezielt, wissen bei Krimis von Beginn weg, wie es endet. Ich weiss nie, was von der einen Seite zur nächsten passieren wird. Ich schreibe schon nicht einfach so drauf los und habe Ideen, die ich verfolge, aber vieles passiert erst beim Schreiben selbst. Manchmal finde ich mich in einem Café wieder, wo ich eine Szene oder bestimmte Ereignisse beschriebe. Zuhause nehme ich die einzelnen Stücke und sortiere sie um und merke was an den Anfang und was zum Schluss gehört. Dann erarbeite ich die verbindenden Stellen und allmählich entsteht so eine Geschichte.

 

Strukturieren ist also genauso viel Arbeit wie das Texten selbst.

 

Genau, absolut. Das ist immer so. Die Struktur kann sich auch aufgrund des Inhalts immer wieder verändern. Kleine Frage, kann ich hier kurz ein paar Schritte gehen? Meine Smartwatch erinnert mich gerade daran mich zu bewegen.

 

Ja klar, kein Problem

 

Irvine spaziert entspannt im Interviewraum.

 

 

Du hast kürzlich auch mit Pilates angefangen?

 

Ja, das stimmt. Das ist nun meine neue Zwangsstörung. Früher hat es mich in die Drogen und Partyszene gedrängt und nun in den Fitnesswahn. (lacht) Es ist exakt dieselbe Sache, genau die gleichen Impulse, nur dass ich es nun viel besser in eine gesunde und produktive Art und Weise umsetzen und einzufangen vermag. Die Uhr sagt mir beispielsweise, dass ich jede Stunde 250 Schritte absolvieren sollte. Dies ist eine gute Sache, weil ich während des Schreibens viel sitze und mich kaum bewege und dem kann ich nun gut entgegensteuern mit der Erinnerungsfunktion auf der Uhr.

 


Ich bin auf dich durch den Film «Trainspotting» aufmerksam geworden, welchen ich mit 14 Jahren sah. Danach fing ich an all deine Bücher zu lesen. Funktioniert Film als Marketinginstrument um neuen Leser anzulocken?

 

Ich mag die Idee, dass sie sich verändert, je nachdem in welchem Medium die Geschichte erzählt wird. Und jeder Theater- oder Filmschauspieler gibt der Figur, die er oder sie verkörpert, die eigene Note. Ich sehe es eher so als hätte ich nicht eine spezifische Geschichte erfunden, sondern viel mehr ein Universum, in dem sich die Ereignisse mit bestimmte Figuren abspielen. Und du musst den Leuten vertrauen und ihnen die Freiheit geben ihren eigenen Stil zu finden und nicht zu viel einzugreifen. Mir war es wichtig, dass Danny (Boyle) und die anderen eine eigene Ownership über die Sache gewinnen und sich künstlerisch voll entfalten können, statt akribisch das geschriebene Wort umzusetzen. So entstehen neue Facetten und ich entdecke neue Seiten an meinen Werken. Ich wäre gelangweilt, wenn es 1:1 das Gleiche wäre. Was wäre dann noch der Sinn dahinter?

 


Du schreibst nicht nur, du bist auch als DJ viel unterwegs. Wie kompatibel sin die beiden Kunstformen Musik und Literatur für dich?

 

Die Arbeitszeiten sind komplett inkompatibel. (lacht) Ich bin der einzige DJ auf dieser Welt, der den eigenen Manager darum bittet, nicht zu viele DJ-Gigs zu erhalten. Ich vertrage es nicht mehr zu viel. Aber ich möchte es auch nicht verlernen und zu weit davon abkommen. Immer mal wieder als DJ aufzutreten, gefällt mir. So dass ich meinen Arbeitsrhythmus nicht verliere, aber gleichzeitig das Musizieren aufrechterhalte. Die DJ-Sache möchte ich nicht als Lohnarbeit praktizieren, sondern vielmehr als Hobby für den persönlichen Ausgleich. Musik war für mich von klein auf ein existenzieller Part meines Lebens. Und in den letzten 10, 15 Jahren machte ich Musik zuhause, damit ich Inspiration für meine Figuren erhielt und so weiter, aber mir fehlte die Interaktion mit anderen Menschen. Es wurde zu einem einsamen Hobby. Und deshalb geniesse ich die sporadischen Gigs sehr, kann mit gleichgesinnten DJs über Musik sinnieren und erlebe Zuhörer meiner Symphonien live mit. Ich habe dies sehr vermisst.

 


Gibt es auch einen regen Austausch mit anderen Autoren so wie du es mit anderen DJs erlebst?

 

Nein, die Autorengemeinschaft ist eine fremde Gemeinschaft für mich, um ehrlich zu sein. Musik kannst du einfach anhören und deinen Senf dazugeben, aber bei Büchern und Texten ist dies ein wenig komplizierter. Ich habe einige Schriftsteller, die über die Jahre hinweg enge Freunde geworden sind. Aber mehr auf der persönlichen Ebene, weniger auf der beruflichen. Aber an Literaturfestivals treffe ich andere Autoren und tausche mich mit ihnen sporadisch aus. Aber viel lieber mit den Lesern, die meine Werke kennen.

 


Wie am Literatur Openair-Festival in Zürich.

 

Genau. Es macht für mich keinen Sinn nur im einsamen Kämmerchen vor mich hin zu dichten, ich brauche auch die Interaktion mit den Lesern. Das eine gehört zum anderen und macht das Schreiben dann auch wirklich interessant. Du schuldest es den Leuten, die an dich geglaubt haben und deine Werke publizieren auch selbst dafür einzustehen und Werbung zu machen. Aber nur auf Lesetour zu gehen, ohne neues zu publizieren, ist auch nicht der richtige Weg, es geht darum die Balance zu finden. Wie beim DJ-ing oder im Pilates (lacht).

 

 

Tanja Lipak / Mo, 30. Jul 2018