Indie-Disco-Hipstershow
Wann haben Sie das letzte Mal einen Film im Kino gesehen, ohne den Trailer zu kennen? Das ist ungefähr die Ausgangslage meines Besuchs der Kanadischen Band «Arcade Fire» im Hallenstadion. Man erzählt mir unablässig Gutes über sie, aber ich kann keine Emotion mit ihnen verbinden. Kurz vor Beginn bildet sich eine Schneise im Publikum. In aktueller U2-Manier macht sich die Band am Eingang zum Aufmarsch bereit. Sänger Win Butler trägt weisse Hosen, blauen Blazer, Hut und Sorgenfalten. Nach flammender Laudatio des Stadionsprechers schreitet er zur Bühne, wo Scheinwerfer einen Kampfring zeichnen. Das Setting wird von zwei Drumsets dominiert. Darüber thront ein geknicktes Billboard, so wie bei alten Kinos.
Als eine aufdringliche Krachcollage endlich verebbt, legt die Band mit dem schwülstig-abbaesken «Everything now» los. Solche Musik war der Grund, warum ich einst das Radiohören aufgab. Dennoch bleibe ich optimistisch. Ich glaube fest daran, schon gute Songs der Band gehört zu haben. «Neighborhood #3» schaltet zwei Gänge höher, aber Zürich folgt dem Überholmanöver nicht. Butler erscheint zähnefletschend auf dem Billboard. Mir fällt ein, dass er 2011 damit drohte, wegen dem angeblich miesen Publikum nie wieder in der Schweiz aufzutreten. Ich bin womöglich nicht der einzige, der das in Erinnerung hat: Die Band spielt vor etwas leeren Rängen. Die Lichtshow übertüncht das geschickt.
Nach drei weiteren Songs bekomme ich ihre Musik endlich zu fassen: Eine Mischung aus der Rocky Horror Picture Show, den Smiths und Front 242 – mit einem Schuss Bruno Mars und dem Geiste der Kelly Family. Butler streckt sich auf der vordersten Kante der Live-Boxen und fuchtelt mit der Faust, so als sei das Gemensch nicht aufmerksam genug. Obwohl die gut zehn Musiker richtig tight spielen, springt der Funke noch nicht rüber. Normal für Zürich. Am Ende des ersten Drittels zitiert Butler knurrend Curt Cobain. «Here we are now. Entertain us!» Eine Referenz an die Foo Fighters, die drüben in Bern spielen und ihnen ein paar Fans abgejagt haben? Oder ein weiterer Giftpfeil Richtung Zurückhaltung des Publikums?
It’s Zurich. Deal with it!
Ausgerechnet der grosse Poet, der uns stets Welt und Leben erklärt, kapituliert vor der Helvetischen Kühle. Dabei wär’s so einfach: Wir Schweizer sind streng mit anderen, weil wir streng sind mit uns selbst. Besonders wir Zürcher. Und wir zahlen für jedes verdammte Konzert viel mehr als andere für die gleiche Show im Ausland. Wir wollen erst mal was zu hören bekommen, bevor wir uns entblössen und öffentlich zu Begeisterung versteigen. Erst als sich ihr tragisch-melancholischer Hit «The Suburbs» seinem Ende nähert, entsteht ein magischer Moment von Verbindung zwischen Band und Publikum. Aber Butler versaut ihn gründlich, indem er schulmeisterlich dazu auffordert, mitzusingen. Und gefälligst nur die Mädchen. Doch das Eis ist gebrochen. Eine monströse Discokugel taucht die Halle in ihren kühlen Zauber, während Sängerin Régine Chassagne ihr hochverdientes Solo bekommt. Spätestens bei «Creature Content», als es Lichtkegel in den Nebel auf der Bühne regnet, wehen die Arme. Butler hat die Schweiz geknackt ¬– und ein verdienter Sieg ist ein besonders süsser Sieg.
Gefangen in der Reflektion
Butler bleibt untröstlich wie Morrissey. Nach der Pause tänzelt er vom Lichtkegel verfolgt auf dem Tresen der hinteren Getränkeausgabe in die Zugabe. «We don’t deserve Love» singt er, springt herab und gleitet mühelos durch die Menge – einer der grossen Vorteile von Schweizer Publika. Arcade Fire sind eine bunte, wilde Ausnahmeerscheinung in unserer kalten, konformen Popwelt, wenn da nur nicht der passiv-aggressive Texaner wäre, der stellenweise an Justin Biebers Onkel erinnerte. Doch flankiert von seiner wunderbaren Ehefrau Régine, die zärtlich auf Flaschen trommelt, entfaltet «We don’t deserve Love» seine versöhnliche Magie. Dann ertappe ich mich dabei, wie ich auf das Händy einer Zuschauerin schiele, auf dessen Bildschirm das Billboard angezeigt wird, welches die Band abbildet. Hatte Butler nicht genau davor auf dem Album «Reflektor» gewarnt? Dass in unserem Zeitalter der Reflektion nichts Neues mehr entstehen kann, wenn wir nicht mit gaffen aufhören und stattdessen weitergehen? Ein wirklich guter Tipp, den ich sogleich beherzige.
Arcade Fire und das Schweizer Publikum sind noch nicht restlos versöhnt, aber sie singen wieder miteinander. Die Kanadische Ausnahme-Combo leistete mit vollem Einsatz Abbitte und konnte die Menge doch noch für sich gewinnen. Hätte Sänger Win Butler seine harten Worte von einst gleich zu Beginn kurz angesprochen, die Party wäre womöglich noch früher gestiegen.