Der Williamsburger

Kultur aus New York: Nerdiness im Trend
Bart, Brille, Kappe: Ein wahrer Williamsburger
Bildquelle: 
Noemi Di Gregorio

Vor gut zwei Jahren starteten Celebrities wie Brad Pitt, Keanu Reeves, George Clooney und Jake Gyllenhaal den Trend zum Bart. Munter liessen sie ihrer Gesichtsbehaarung freien Lauf, bis ihre Gesichter überwuchert waren und man vor lauter Zottelhaaren nicht mehr wusste wohin man schauen sollte.

 

Der Bart; ein Relikt, verstaubt und gemieden, ein Synonym für Unsexiness, im Hype der Metrosexualität äussert verschmäht, schaffte ein Comeback sondergleichen. Sogar Milchgesichter wie Zac Efron und Justin Timberlake wagten sich –wenn auch in gemässigter Form- an die Gesichtsbehaarung heran. In Williamsburg, der sogenannten Hochburg der Hipsters (man beachte die Wahl des Wortes «sogenannt») nahm man den Trend sofort mit äusserster Ernsthaftigkeit auf. Der Bart war fortan Teil der Uniform der in Williamsburg ansässigen Männer.

 

Williamsburg war einst ein heruntergekommener Teil von Brooklyn. Die Mieten waren dementsprechen billig, was viele Künstler veranlasste dorthin zu ziehen. So war Williamsburg für einige Zeit die Wiege vieler Trends, die nach und nach vom Rest der Welt adaptiert wurden. Heute ist dieser Stadtteil jedoch alles andere als ein Geheimtipp. Neue Wohnhäuser mit ziemlich stolzen Mieten wurden gebaut. Die Bewohner –oder deren Eltern- sind wohlhabend. Nichtsdestotrotz ist es immernoch trendy, in Williamsburg zu wohnen.

 

Erkennungsmerkmal für Bewohner dieser Gegend ist die Williamsburg-Kluft. Für Männer beinhaltet diese eine nerdige (nerd = Streber, Sonderling), schwarze Hornbrille, skinny Jeans (die aber eine Nummer zu gross sind, in dunklen Farbtönen, die Beinenden vorzugsweise ein wenig aufgerollt), ein kariertes Hemd oder ein T-Shirt, das nicht zu gepflegt aussehen darf (am besten mit einem V-Ausschnitt, oder eines mit dem Schriftzug einer alten Rockband drauf), darüber eine schwarze oder braune Lederjacke. Das Fusswerk besteht meist aus ausgebeulten Schnürboots. Bei den Haaren hat Mann die Möglichkeit zwischen einem Seitenscheitel à la James Dean oder einer zerzausten «Out-of-Bed-Frisur». Je nach Tagesform kann der Look mit einem Hut oder einer Mütze ergänzt werden. Krönung dieses Outfits ist, selbstverständlich, der Bart.

 

Ohne Zweifel zelebrieren die Williamsburger die Nerdiness mit grosser Lust. Früher reproduzierte mein Hirn bei der Sichtung einiger dieser Exemplare leider unmittelbar den leicht muffigen Duft einer Brockenstube oder eines Second Hand Ladens. Unterdessen habe ich gelernt die Besonderheiten der Williamsburg-Kluft zu schätzen. Ich muss sogar sagen, dass unter den Williamsburgern wahre Schönheiten zu finden sind.

 

Nun stellt sich mir unweigerlich die Frage: Wie entsteht eigentlich ein Strassen-Trend? Ich stelle mir das so vor: Jemand, oder eine kleine Gruppe von Leuten trägt Kleider oder Accessoires, die  speziell, etwas eigen und aussergewöhnlich sind. Dem Outfit wird dadurch eine individuelle, einzigartige Note verliehen. Findet der Stil bei anderen Menschen Anklang so wird er kopiert. Der Stil wird somit Identifikationsmittel und Zugehörigkeitsmerkmal. Der Look, der ursprünglich Individualität demonstrierte, wird plötzlich zur Uniform. Eine Uniform ist aber schlichtweg das Gegenteil von Individualität.

 

Falls der Erfinder der Williamsburg-Kluft, der Prototyp der Nerdiness, der Adam der Bärtigen, jemals diesen Artikel lesen, und er zufälligerweise Deutsch verstehen sollte, sei ihm an dieser Stelle mein ehrliches Mitgefühl ausgedrückt. Es ist sicher nicht einfach in seiner Individualität eingeschränkt zu werden, nur weil alle andern seinen Stil kopieren.

Falls Brad Pitt zufälligerweise diesen Artikel lesen, und auch er der Deutschen Sprache mächtig sein sollte, so würde ich an dieser Stelle gerne den Wunsch an ihn adressieren, bitte für den nächsten Trend einen weniger haarigen Stil in Betracht zu ziehen.

Noemi Di Gregorio / Di, 20. Mär 2012