Poetische Annäherung an einen Mythos

Movie-Kritik: Alfonsina
Bildquelle: 
Filmcoopi

Alfonsina Storni ist 46 Jahre alt, als sie sich im Jahr 1938 in die Wellen des Atlantiks stürzt. Der Freitod, der an Brustkrebs erkrankten Poetin berührt ganz Argentinien und festigt gleichzeitig ihren Mythos, der bis heute anhält. In der Schweiz hingegen, ist sie wenigen ein Begriff. Alfonsina wird 1892 im Tessin geboren. Als sie 4 Jahre alt ist, emigriert die Familie nach Argentinien. Doch der Traum eines besseren Lebens erfüllt sich nicht. Alfonsina wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, lässt sich zur Lehrerin ausbilden und beginnt schon früh erste Gedichte zu verfassen. 1911 erscheinen erste Gedichte in der Lokalzeitung ihres Wohnorts. Doch eine aussereheliche Schwangerschaft zwingt sie nach Buenos Aires zu ziehen, um in der Anonymität der Grossstadt der Schande zu entgehen. Um über die Runden zu kommen, nimmt sie verschiedene Stellen an und veröffentlicht nebenbei laufend neue Gedichte, die immer grösseren Anklang finden. Sie fühlt sich anarchistischen Bewegungen nahe. In ihren Texten, die von Lyrik über Essays bis zu journalistischen Artikeln und Kolumnen reichen, prangert sie soziale Ungerechtigkeit an und fordert ein grösseres Selbstbestimmungsrecht für Frauen. Schliesslich gelingt es ihr sogar, Zugang zur männerdominierten Dichter-Domäne von Buenos Aires zu erhalten. Trotz des wachsenden Erfolgs hat sie aber immer wieder mit Depressionen und dem Gefühl der Einsamkeit zu kämpfen. Obwohl sie nach aussen stark wirkt, offenbaren ihre Gedichte eine grosse Unsicherheit und Zerbrechlichkeit, die im vorliegenden Film durchscheinen.

 

Alfonsina Storni bei einer Lesung.

 

Nach «Bruno Manser – Laki Penan» und «Glauser» nimmt sich Regisseur Christoph Kühn nun der Avantgardistin Alfonsina Storni an. Alte Fotografien und Filmausschnitte sowie eindrücklich schöne Landschaftsaufnahmen untermalen die Stimme aus dem Off, die aus Alfonsinas Texten zitiert. Dazwischen lässt Kühn immer wieder auch Familienangehörige, Bekannte und Literaturexperten zu Wort kommen. Gekonnt verwebt er diese Fragmente zu einem stimmigen Ganzen. Denn all diese Mittel sollen dazu dienen, die facettenreiche Persönlichkeit Alfonsinas dem Betrachter nahezubringen. Dabei verzichtet er auf eine allzu sachliche Herangehensweise und spult ihr Leben nicht als blosse Ansammlung von Daten und Fakten runter. «Alfonsina» ist vor allem ein poetischer Film, der durch seine Bilder eine enorme Anziehungskraft entwickelt und weniger dazu dient Informationen zu vermitteln, als viel-mehr die Gedankenwelt Alfonsinas zu erfassen. Da die Erzählweise nicht strikt chronologisch aufgebaut ist und die Kommentare mehrheitlich ihren Gedichten entnommen sind, ist es allerdings nicht immer leicht dem Film zu folgen. Besonders wenn man Alfonsina Storni und ihr Werk vorher nicht gekannt hat, entstehen durch die teils sprunghafte Erzählweise Lücken, die Fragen aufwerfen. Allerdings weckt der Film dadurch auch den Wunsch, mehr über das Leben dieser starken, mutigen Frau zu erfahren, die in der Schweiz zwar kaum bekannt ist, im lateinamerikanischen Raum aber schon zu Lebzeiten zu einer Legende wurde. 

 

Bendita Berlin (ehemalige Schülerin von Alfonsina Storni), Merry Storni (Urenkelin von Alfonsina Storni)

 

Kühns eigenwillige Annäherung an den Mythos Alfonsina Storni mag kein herkömmlicher Dokumentarfilm sein, der sich nur auf Fakten beschränkt. Trotzdem überzeugt «Alfonsina» durch seine lyrisch angehauchte Atmosphäre, die den berührenden und ausdrucksstarken Zeilen der Poetin einen angemessenen Rahmen gibt. 

 

  • Alfonsina (Schweiz / Argentinien 2014)
  • Regie & Buch: Christoph Kühn
  • Mitwirkende: Guillermo Storni, Merry Storni, Graciella Gliemi, Ana Atorresi, Bendita Berlin
  • Laufzeit: 78 Minuten
  • Kinostart: 5. Juni 2014
Sule Durmazkeser / Mi, 04. Jun 2014