Hot Girl Summer am NIFFF

Rückblick: Nifff 2022
Bildquelle: 
Plakat Nifff / ©ENCOR STUDIO / NIFFF 2022

Vom 1. bis 9. Juli 2022 zog es 50‘000 Filmbegeisterte nach Neuchâtel ans International Fantastic Film Festival, kurz NIFFF. Bäckstage war vor Ort, traf andere Filmnerds für angeregte Diskussionen und schweisstreibende Filmvorführungen. Was am diesjährigen NIFFF auffiel: die Frauenquote war sehr zufriedenstimmend. Sei es in Hinblick auf die Gäste, Jury oder auch Filme: weibliche Filmkunst und weibliche Protagonistinnen standen hoch im Kurs. Da wäre zum einen US-Autorin Joyce Carol Oates als Ehrengast und Vorsitzende der internationalen Jury oder die letztjährige Gewinnerin für «CENSOR», Prano Bailey-Bond, als Jury-Mitglied. An vielen Filmvorführungen teilten Drehbuchautorinnen & Regisseurinnen ihre Sicht der Dinge mit dem Publikum. Ein anderer Aspekt des diesjährigen NIFFFs war das Multiversum oder die verschiedenen Versionen vom eigenen Selbst, ausgelotet in Filmen wie «Everything, everywhere, all at once», «Dual», «X» oder «Leonor will never die». Und damit verbunden der ewige Kampf mit dem eigenen ich.

 

Folgende Filme stachen uns besonders ins Auge:

 

«Huesera» von Michelle Garza Cervera - International Competition

 

Valeria (Natalia Solián in ihrem atemraubendem Filmdebut) fühlt sich im Zuge ihrer Schwangerschaft vermehrt von dämonischen Wesen verfolgt. Je schlimmer die Visionen werden, desto mehr erfahren wir von Valerias Vergangenheit, verdrängten Traumata und unerfüllten Lebenswegen. Drehbuchautorin und Regisseurin Michelle Garza Cervera liess gemäss eigener Aussage von einer Familiengeschichte zu der Story inspirieren. Die gruselige, knochenbrechende Klimax-Szene gegen Ende des Filmes, sei mit Hilfe eines Choreografen über einen Monat lang eingeübt worden, erzählte Garza Cervas an der Filmpremiere weiter. Inspiriert sei der Film zudem von Streifen, wie «Rosemary’s Baby» oder «Possession», welche alle im Rahmen von wöchentlichen Filmvorführungen von Cast & Crew studiert wurden. «Huesera» ist ein starker Film, der die Rolle der Frauen in der Gesellschaft, alternative Familienmodelle und die Suche nach der eigenen Identität einzigartig, spannend, emotional und künstlerisch hochstehend erzählt. Die Aktualität dieses Streifens ist angesichts des neues Abtreibungsverbotes in den USA zudem leider grösser denn je.

 

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«Leonor will never die» von Martika Ramirez Escobar - Asian Competition

 

In den 70er-Jahren wurden viele, sehr viele B-Actionfilme in den Philippinen produziert. Filmemacherin Martika Ramirez Escobar liess sich von den Streifen, die in ihrer Kindheit durchwegs in Wohnzimmern, Krankenhäusern und Läden liefen, inspirieren. Herausgekommen ist eine Action-Komödie um die pensionierte Filmemacherin Leonor, welche mit einem TV-Gerät erschlagen ins Koma fällt. In ihrem eigenen Kopf gefangen, dreht sie ihren unerfüllten Lebenstraum, ihren unvollendeten Film zu Ende. «Leonor will never die» besticht durch seine Kreativität, der Liebe zu den Filmen der 70er-Jahre und dem Geniestreich, sich selbst nie ernst zu nehmen und sich keine künstlerischen Grenzen zu setzen. So landet der Film mitsamt seiner Filmemacherin bald schon in den Gewässern von Charlie Kaufmanns «Adaption», aber in guter Art und Weise, weil keine Pseudo-intellektuelle Ebenen anvisiert werden. Ein originelles Feel-Good-Movie mit viel Lebensfreude.

 

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«Men» von Alex Garland (siehe Titelbild) - International Competition

 

Alex Garland mag vielen entweder als Autor («The Beach», «The Coma», «Manila»), Drehbuchautor («Sunshine», 28 Days later») und/oder Regisseur («Ex Machina», «Annihilation») bekannt sein. Das Multitalent schafft scheinbar alles, auch den mühsamen, angsteinflössenden und bedrohlichen Alltag des weiblichen Geschlechts als filmische Metapher einfangen. Dies gelingt ihm zumindest in «Men» meisterhaft. Im Zentrum des Werks steht Harper (Jessie Buckley), die nach einem Unfall Zuflucht in einem englischen Landhaus sucht. Ruhe und Idylle würde sie finden, wären da nicht alle Männer, die auf ihre eigenwillige, schwierige, mysteriöse und kranke Art Harper das Leben zur Hölle machen. Angereichert mit Symbolen, Metaphern, Gruseleffekten sowie Gore-Momenten funktioniert «Men» auf allen Ebenen, sei es als Gesellschaftskritik, Fantasy Film oder feministischer Thriller. Bravo!

 

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«Decision to leave» von Park Chan-Wook - Third Kind

 

Park Chan-Wook gewann in Cannes den Regiepreis für «Decision to leave». Das Drehbuch schrieb Chan-Wook erneut gemeinsam mit Jeong Seo-Kyeong wie bei «The Handmaiden». Jeong Seo-Kyeong war in Neuchâtel anwesend und gab humorvoll Aufschluss über die Entstehung des Filmes. So wollte sie unbedingt eine Liebesgeschichte schreiben, hegt aber eine persönlich tiefsitzende Aversion gegenüber Szenen mit seichten «I love you»-Beichten. Deshalb schrieb sie eine Geschichte über zwei Menschen, die eben jene gewichtige drei Worte nicht vermögen auszusagen. Dies resultiert jedoch in den zwei kompliziertesten, ausschweifendsten «I love you»-Momenten der Filmgeschichte. Und weil Jeong Seo-Kyeong eine klevere Schreiberin ist, führen just jene indirekten, verwickelten Gefühlsbekunden die Story voran resp. dienen als eine Art MacGuffin. Kommt ihr noch mit? Nein? Dann versuchen wir es mal so: Detektiv verliebt sich in Hauptverdächtige. But it’s complicated. Und es gibt Berge und das Meer. Und wer hier tiefsitzende Metaphern vermutet, der liegt falsch. Jeong Seo-Kyeong liebt die Berge, besitzt in Korea sogar einen Berg (Familienerbe), während ihr Mann das Meer liebt. Das ist alles. Und ja, der Film ist sehr empfehlenswert.

 

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«Saloum» von Jean Luc Herbulot  -  Ultra Movie

 

Es schien als würden sämtliche Zuschauenden am NIFFF mit folgender Begründung ins Kino marschieren: «Wann hast du schon mal einen senegalesischen Western-Horror Film gesehen? Wann wirst du jemals wieder die Gelegenheit dazu haben?» Ergo sah man sich den Film an und das war gut so. Die Geschichte um eine senegalesische Söldnertruppe, welche sich mitsamt Drogenbaron-Geisel in einem Ferienlager versteckt, ist schon originell. Kommt noch hinzu, dass diese Truppe enorm gut harmoniert auf der Leinwand, sehr sympathisch ist und von talentierten Darstellern getragen wird. Im Feriencamp trifft das Trio auf eine taubstumme Rebellin (ebenfalls grandios dargestellt und Hut ab für die Inklusion von taub-stummen Figuren in einem Actionstreifen, es geht, man muss halt nur wollen, alle Achtung!) und einen ehemaligen Kindersoldaten-General, gespickt wird das Ganze mit einer mystischen Geisterlegende. Top Unterhaltung, top Umsetzung, wir wollen mehr senegalesische Western-Horror-Filme! Her damit!

 

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«Dual» von Riley Stearns - International Competition

 

Die depressive Sarah (Karen Gillan) erfährt, dass sie bald sterben wird. Bad news for her but not für her loved ones. Warum? In dieser alternativen Zukunft darf sich jede/-r Sterbende einen Klon anfertigen lassen. Dumm nur erhielt Sarah eine Fehldiagnose und muss deshalb mit ihrem Klon in einem mörderischen Duell ausfechten, welche Sarah bleiben darf. «Dual» thematisiert die Frage, wie die bessere, ideale Version von einem selbst aussieht und ob diese uns glücklich machen würde. Und wie in vielen ähnlichen Geschichten zuvor, durchlebt Sarah den klassischen Weg: Erst durch die Hiobsbotschaft des Duells angefeuert, krempelt Sarah ihr Leben um, wird fit, besucht Kampf- und Tanzstunden, lässt die Finger von ihrem emotional distanzierten Freund. Im Vergleich dazu bricht das alltägliche Leben die Klon-Sarah Stück für Stück, so dass sie sich bald schon in der unzufriedenen, depressiven Lage der Ursprungs-Sarah wiederfindet. «Dual» besticht durch seinen Minimalismus. Statt irren Sci-Fi-Zirkus, bleibt der Film in seiner Zukunfts-Prognose sehr nahe an der heutigen Welt. In diesem Sinne erinnert er ein wenig an Yorgos Lanthimos’ «The Lobster». Das Ende erinnert dann wieder stark an «Sliding Doors» mit seiner Kernbotschaft.

 

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«X» von Ti West – Überraschungsfilm

 

Die Prämisse klingt schon mal vielversprechend: 3 Pärchen mieten in den 70er Jahren auf einer texanischen Farm ein Landhaus, um einen «hochstechenden» Porno zu drehen. Das mit dem Hochstehen klappt zumindest und die dreckigen Bilder sind im Kasten. Diese sind gar so heiss, dass sich die sexuell frustrierte alte Farmdame auf lüsterne Beutejagd begibt, ohne Angst vor Verlusten. Bei diesem Film wurde viel, sehr viel gelacht. Dies liegt zum einen an den gewollt komischen, oftrmals aber auch ungewollt komischen Szenen. Spannung, Horror, Gliederteile, Blut und sogar Alligatoren hat der an «Texas Chain Massacre» angehauchte Film zu bieten. Kurzweilige Unterhaltung, perfekt fürs Mitternachts-Screening!

 

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«Family Dinner» von Peter Hengl - International Competition

 

Die übergewichtige Teenagerin Simi (Nina Katlein) möchte abnehmen und sucht dazu ihre Tante Claudia (Pia Hierzegger) auf, die erfolgreiche Ernährungsberaterin ist. Je länger Simi aber im abgelegenen Heim ihrer Tante verbringt, umso unwohler wird dem Mädchen, denn ihrer Tante scheint der Erfolg über den Kopf gewachsen zu sein, denn Claudia sucht immer drastischere Methoden. Hengls Thriller erinnert an eine Art österreichisches «Midsommar»-Kammerspiel, das über grosse Teile hinweg so auch gut funktioniert. Der Clou ist aber so gut angekündigt, dass er sich zu Ungunsten der Spannung entfaltet. Unterhalten tut der Film aber auf alle Fälle, insbesondere als vegane Gesellschaftskritik.

 

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«Leio» von Chalit Krileadmongkon & Chitpol Ruanggun- Asian Competition

 

Der bis dato teuerste thailändische Film ist eine Hommage an amerikanische Actionstreifen Marke Jerry Bruckheimer oder Michael Bay. Als der gefallener Pop-Star Kao in sein Heimatdorf zurückkommt, eröffnet seine Jugendfreundin einen Wettbewerb für das Finden von Grundwasser zwecks Versorgung der Dorfbevölkerung. Da Kao das Geld gut gebrauchen kann und seine Freundin beindrucken möchte, trommelt Kao mitsamt seiner Cousine eine Suchtruppe zusammen. Doch statt Wasser finden sie ein gigantischers Eidechsenmonster. «Leio» wurde dem Norden Thailands gewidmet, wo Eidechsenfleisch als Delikatesse gegessen wird, weshalb die Filmemacher Freude an der Idee eines sich rächenden Eidechsenmonsters hatten, wie sie in Neuchâtel erzählten. Der Film bringt einen gelungenen Mix aus Spass, Humor, Action. Insbesondere die Nebenfiguren sind sehr stark besetzt und stehlen den Hauptdarstellern gerne die Show. Die VFX-Spezialisten stehen ihrem westlichen Kollegen in nichts nach, so dass sämtliche Effekte wunderbar und erstklassig umgesetzt sind. Einzig bei der Länge des Streifens wäre weniger mehr gewesen.

 

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«The Round-Up»  von Lee Sang-Yong - Asian Competition

 

Koreanische Ermittler reissen nach Vietnam, um einen Verdächtigen zurück ins Land und vor Gericht zu bringen. Die Prämisse mag zwar nicht nach viel klingen, trotzdem unterhält der Film auf Top Niveau. Dies liegt zum einen an Hauptdarsteller Don Lee, welcher sich charmant und tatkräftig zeigt. Die Action stimmt, nimmt sich aber nie zu ernst, viele Szenen legen bewusst mehr Wert auf humoristische Elemente statt realistischer Darstellungen. Einziger Kritikpunkt: hierbei handelt es sich um eine Fortsetzung! Wie gerne hätten wir in Neuchâtel auch Teil 1 gesehen. Die Vorfreude ist geweckt!

 

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«Ah du Scheisse» von Lukas Rinker - Ultra Movies

 

Architekt Frank wacht kopfüber und mit ernsthafter Handwunde in einem Toi Toi Klo auf. Was ist passiert? Und wie kommt Frank vor der Detonation auf dem Baugebiet aus seiner misslichen Lage raus? «Ah du Scheisse» bot als einer der wenigen Ultra Movies am diesjährigen NIFFF waschechte Gore-Effekte. Gut für den Film, schade fürs NIFFF. Ebenfalls gut für den Film: Friederike Kempter als Öko-Tante, die eine bedrohte Eulenart retten will.

 

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«Shin Ultraman» von Higuchi Shinji - Asian Competition

 

Mitten im Film beschlossen wir den Kinosaal zu verlassen. Eine Zumutung par excellence. Einfallslos, vorhersehbar und ohne jeglichen USP.

 

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«Everything everywhere all at once» von Dan Kwan & Daniel Scheinert - Ultra Movies

 

Hier verweisen wir auf die kommende Kritik zum Filmbeginn. So viel sei aber gesagt: Noch nie wurde das Multiversum derart gekonnt umgesetzt, noch nie wurden so viele unterschiedliche Universen derart gelungen verknüpft. Noch nie wurde eine derart simple und im Grunde einfache Geschichte so stark und facettenreich erzählt. Wow.

 

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«Incantation» von Kevin Ko - Ultra Movies

 

Als eine Schwangere im Rahmen einer «Ghostbusters»-Action eine isolierte Glaubensgemeinschaft aufsucht, glaubt sie ihr ungeborenes Kind sei verflucht worden. Sie gibt das Kind ab. Jahre später findet eine Annäherung zwischen Mutter und Tochter statt. Doch die Ängste tauchen wieder bei der Mutter auf und unheimliche Ereignisse reihen sich aneinander. Der USP dieses Films liegt in seiner Form. Sämtliche Szenen sind aus einer Handykamera oder Videokamera von einem der Protagonisten geführt. Und dies klappt überaschenderweise sehr gut, auch wenn Filme wie «Blair Witch Project» einst diese Lost-Footage Form vor Jahren salonfähig machten und es heute nicht mehr als bahnbrechend innovativ gilt. Ebenfalls interessant sind all die Legenden und Mythen, auf welchen die Geschichte beruht. Ein interessanter Fund, so oder so.

 

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«PussyCake» von Pablo Parés - Ultra Movies

 

Rock-Girl-Band landet in einer von Seemonster-ähnlichem Wesen bedrohten Kleinstadt. Gute Prämisse, aber mittelmässige Umsetzung. Vieles ist wirr und unklar (Prolog mit Teenager wird nie wieder aufgefasst, warum? Wer ist der gutmütige Rächer / Helfer?). Statt Gore gibt es ein paar Blutspritzer. Die bösen Wesen haben Alien-artige Begattung im Fokus, weniger Mord und Totschlag. Schade.

 

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«Veneciafrenia» von Alex De La Iglesia - Ultra Movies

 

Massentourismus ist nervig, Massentouristen töten aber nicht. Veneziani striken back und rächen sich an den nervigen, party-obsessiven Hipster-Ankömmlingen. Film weckt grosse Erwartung, liefert aber nur seichtes Crime-Thriller-Niveau. Wo sind bloss die Ultra Filme dieses Jahr geblieben? Am NIFFF gefunden haben wir sie nicht.

 

 

 

Tanja Lipak / Mi, 13. Jul 2022