Ein Königreich für die Wahrheit
Das westafrikanische Königreich der Dahomey ist in Aufruhr! Nachbarstämme wollen ihm Böses. Doch dem gutmütigen König Ghezo stehen die noblen Kriegerinnen der Agojie zu Seite. Eine schier unbesiegbare Armee aus Frauen. Selbstlos bieten sie ihren Feinden die Stirn und suchen nach einem Weg, den Sklavenhandel, dem sie ihren Wohlstand verdanken, abzuschaffen.
Klingt nach einer Geschichte, die man gesehen haben muss. Handwerklich ist auch wenig auszusetzen. Einzig die Kampfszenen sind gelegentlich unterwältigend, weil die Statisten im Hintergrund meist nur herumstehen. Aber Viola Davis, Kommandantin der Agojie, liefert eine hervorragende Darbietung ab. Kostüme und Musik? Ein Genuss. Da verzeiht man leicht, dass John Boyega als König ständig in seinen privaten Gemächern herumgockelt und ungelogen nur ein einziges Mal Sonne abbekommt. Und obendrein ist das alles auch noch genau so passiert.
Oder etwa doch nicht? In den USA soll gerade in der afroamerikanischen Gemeinschaft eine Kontroverse um «Woman King» ausgebrochen sein. Das Problem hierbei: es handelt sich mitnichten um eine Kontroverse. Dafür sind die Fakten leider zu klar.
Allein der Umstand, dass man ein Volk von Sklavenhändlern als Opfer inszeniert, ist delikat. Doch die Dahomey waren nicht irgendwelche Sklavenhändler. Sie waren die vielleicht grössten afrikanischen Unterstützer und Profiteure des transatlantischen Sklavenhandels. Der Film tut so, als hätten gerade die Frauen im Stamm darauf gepocht, den Sklavenhandel zugunsten von Palmöl einzustellen. Historische Quellen weisen zwar darauf hin, dass König Ghezo gelegentlich zu Reformen neigte, jedoch immer wieder in alte Muster verfiel. Und die angeblich heldenhafte Armee der Agojie… wie soll ich’s denn formulieren?
Unentwegt attackierten sie die Nachbarschaft, mordeten, verstümmelten und versklavten. Nicht einmal Frauen und Kinder blieben verschont. Sie gingen derart brutal vor, dass ich der Leserschaft die Details erspare. Als sie schliesslich ein Protektorat der Franzosen überfielen, war der Bogen überspannt. Die französische Armee intervenierte, schlug die Agojie vernichtend und setzte dem Dahomey-Königreich ein Ende. Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o war ursprünglich an Bord. Doch nach eigener Recherche kehrte sie dem Projekt den Rücken und produzierte eine Dokumentation namens «Warrior Women», in welcher sie die Ursprünge der Dahomey erforschte. Nachdem sie die ganze Wahrheit erfahren hat, sitzt sie tränenüberströmt am Strand – fassungslos über die Fakten.
Noch selten hat es ein Film gewagt, Bösewichte derart schamlos als Helden darzustellen. Ja, Hollywood verdreht gerne Tatsachen. Populäre Beispiele wären da «U-571», «Königreich der Himmel» oder «Braveheart». Doch trotz der haarsträubenden Freiheiten, die sich Mel Gibson 1995 herausnahm, bleibt die Grundaussage wahr: Die Engländer unterdrückten die Schotten. Die Schotten begehrten auf und erkämpften sich die Freiheit.
«Woman King» hingegen ist historisch etwa so akkurat, wie wenn man einen Film über das Britische Weltreich drehte, in welchem die Briten nicht nur keinen Sklavenhandel betreiben, sondern diesen aktiv bekämpfen. Es ist schön, dass es überhaupt einen Film gibt, in dem schwarze Frauen die Hauptrolle spielen. Immerhin inspirierten die Agojie die Dora Milaje in «Black Panther». Leider nimmt diese Ermächtigung der Frau die Verschleierung von blankem Rassismus und unaussprechlichen Gräueltaten in Kauf.
In einem Vakuum bleibt «Woman King» ein höchst sehenswerter Film. Wer aber weiss, was damals wirklich geschah, den werden die Schicksale der Figuren eiskalt zurücklassen.
- Woman King / USA 2022
- Regie: Gina Prince-Bythewood
- Besetzung: Viola Davis, John Boyega, Lashana Lynch
- Laufzeit: 2h 14min
- Kinostart: 6. Oktober 2022