Süchte und Affenmasken

Theaterkritik: Märtyrer in der Schaubühne
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www.schaubuehne.de / © Arno Declair

Dienstags in einer S-Bahn, Station Friedrichstrasse, kurz nach vier Uhr nachmittags: Ein Paar steigt ein, er ist gross, in knöchelhohen Lederstiefeln, schwarzes Brillengestell, Schnauzer, unscheinbar gutaussehend. Sie trägt eine Plüschjacke mit Leopardenprint, aschblonder Pagenschnitt, sie hat ein Kinderkinn, überhaupt lässt sich nicht sagen, ob sie 15 ist oder 25 - eine Mädchenfrau. In mehr oder weniger regelmässigen Abständen fasst sie erst sein rechtes, dann sein linkes Ohr an, knetet es zwischen ihren Fingern, zupft daran, als wollte sie sich vergewissern, dass beide Ohren noch da sind. Eine etwas irritierende Szene, zu viel Intimität im öffentlichen Verkehr, oder doch nur ein zwanghafter Tick, der befriedigt werden will? 

 

Dienstags in der Schaubühne, am Kurfürstendamm, kurz nach acht Uhr abends: Da sind sie wieder, in der vordersten Reihe. Plüschjacke und Lederstiefel, wie gehabt. Rechtes Ohr, linkes Ohr, den Blick starr auf die Bühne gerichtet. Und da spielt sich Dramatisches ab: Schüler Benjamin lernt die Bibel auswendig und tut seinen neugefundenen Glauben lautstark kund, was zur Folge hat, dass die Mädchen im Schwimmunterricht hochgeschlossene Badeanzüge tragen müssen und in der Biologiestunde die Evolutionstheorie in Frage gestellt wird. Der scheue Georg wird zum Jünger, die rationale Biologielehrerin zur Zielscheibe, die Eskalation wird unvermeidlich. Natürlich darf ein bisschen Nacktheit und reichlich Theaterblut nicht fehlen, aber schlussendlich transportiert das Stück wichtige Gedanken: Wie wird Religiosität in unserer heutigen, säkularen Welt behandelt? Beten wir nicht alle irgendetwas - Gegenstände, Menschen, Ideen, Träume - an? 

 

Ein moderner Märtyrer? Oder doch nur ein Spinner?

 

Benjamins Mutter jedenfalls macht Drogen für alles verantwortlich. Kann Glaube nicht auch eine Sucht sein? Wir alle haben unsere kleinen und grossen Süchte - und wenn es nur das Anfassen der Ohren eines Geliebten ist. Das Ohrenkneten hört auch nicht auf, als sich alle Schauspieler Affenmasken aufsetzen und randalierend über die Bühne hüpfen. Irgendwann fragt man sich: Wie ist das für ihn? Will er, dass sie sein Ohr anfasst? Seine Sucht oder ihre Sucht? Jedenfalls hält er ihr jeweils stoisch-demütig auch noch das andere Ohr hin, sobald sie mit dem einen fertig ist. Ein moderner Märtyrer? Oder doch nur ein Spinner? Genau damit setzt sich auch Mayenburgs Stück auseinander - durchaus gekonnt. Die Schauspieler überzeugen allesamt, besonders faszinierend spielen neben Bernardo Arias Porras (Benjamin) auch Robert Beyer (der ekelhaft joviale Schuldirektor) und Jenny König (Benjamins freizügiger Schulschwarm). Eine gekonnte Inszenierung eines mehr als aktuellen Themas.

 

Weitere Informationen zum Stück gibt es auf der Website der Schaubühne Berlin. 

Tamara Schuler / Do, 12. Dez 2013