Noch einmal die Freude, das Glück und der Schmerz
Wer Urs Widmers Romane kennt, glaubt schnell einmal, auch ihn zu kennen: «Der Geliebte der Mutter», «Das Buch des Vaters» oder auch «Der blaue Siphon» scheinen, trotz der blühend-fantasievollen Sprache des Autors, direkt aus seinem Leben gegriffen. Mit «Reise an den Rand des Universums» hat Widmer nun ein Buch geschrieben, das zwar einige Fragen klärt, aber auch Vieles offen lässt.
Der erste Teil des Werkes führt den Leser zurück ins Geburtsjahr Urs Widmers: 1938 in Basel geboren, durchlebt der kleine «Ulle» seine Kindheit inmitten von Vorstadt-Idylle und drohendem Krieg. Dabei gelingt es dem Autor, seine frühesten Kindheitserinnerungen genauso authentisch zu schildern wie die bleierne, beengende Stimmung, welche die Schweiz in den Jahren des zweiten Weltkrieges beherrschte. 1948 schliesslich die Vertreibung aus dem Paradies; der nun zehnjährige Urs muss mit seinen Eltern und der kleinen Schwester Nora das geräumige Einfamilienhaus mit Garten gegen eine winzige Vorstadt-Wohnung eintauschen.
«Irgendwann war auch der letzte Karl-May-Band gelesen, und meine Kindheit war vorbei»
Es folgt die Schulzeit, Schilderungen, die einen unwillkürlich an die eigene Zeit von damals erinnern, gleichzeitig aber so vergnüglich-menschlich beschrieben sind, dass klar wird: Dieser Widmer ist sympathisch - und ein Mensch wie du und ich. Und er ist einer, der das eigene Leben überaus reflektiert wiederzugeben weiss - wohl auch eine Folge der über viele Jahre andauernden Psychoanalyse, der sich Urs Widmer unterzogen hat.
Der Leser nimmt teil an den Leiden und Freuden des jungen Schweizers, lernt dessen Jugendfreunde und erste Vorbilder kennen, reist mit ihm ins abgelegene La Rösa, erlebt die Depressionen der Mutter und den stoisch auf der Schreibmaschine vor sich hin tippenden Vater. Teil zwei der „Reise an den Rand des Universums“ markiert den Übertritt Widmers ins Jugend- und Erwachsenenleben - und schliesst dabei auch mit einer Reise: 1958 bricht der Student auf zu einem Auslandsemester im französischen Montpellier, trampt dann weiter der Mittelmeerküste entlang und landet schliesslich in Spanien.
«So standen wir einmal mehr vor einem abfahrbereiten Zug und küssten uns»
Im letzten Akt des Buches dann gewährt Widmer dem Leser einen Einblick in die Schattenseiten seines Lebens: Auch hier zeigt sich seine Brillanz, wenn es ihm gelingt, selbst die eigenen Panikattacken und Depressionen poetisch-ehrlich wiederzugeben. Es folgen die weiteren Studentenjahre: Widmer kommt in den Genuss namhafter Dozenten wie Walter Muschg und Edgar Bonjour, lebt eine Zeit lang in Paris, unglücklich verliebt, trifft schliesslich die Frau, die er später heiraten wird und promoviert. Es sind turbulente, wegweisende Zeiten, die Urs Widmer in den 60er-Jahren durchlebt, bevor schliesslich sein persönlicher Urknall erfolgt: Das Schreiben seines ersten Romans «Alois» im Jahr 1968.
«Die Lust war grösser als die Angst, oder umgekehrt»
Widmers Sprache ist ein Juwel für sich: Nur schon deswegen ist auch «Reise an den Rand des Universums“ genauso lesenswert wie die zahlreichen Romane und Erzählungen der letzten Jahre. Zusätzlich baut diese Autobiographie durch ihre Intimität eine wunderbare Brücke zwischen Leser und Autor auf. Diese wird durch die akkurate Beschreibung der Schweiz, wie sie sich in ihrem gelebten Alltag zeigt, noch verstärkt. Man ist dankbar für dieses Buch, das einen für einen kurzen Moment teilhaben lässt an Leben und Erinnerung dieses grossen Schriftstellers.
Humorvoll, detailreich und zuweilen ins Bizarre überbordend ist Urs Widmers Autobiographie schliesslich auch ein Buch voller Weisheiten fürs Leben: «Erst träumen wir von der Zukunft, dann leben wir sie, und am Ende, wenn diese gelebte Zukunft vergangen ist, erzählen wir sie uns noch einmal.»
Autor: Urs Widmer
Buch: Reise an den Rand des Universums
Verlag: Diogenes Verlag
IBAN: 978-3-257-60338-5
VÖ: Im Handel erhältlich