Die Schizophrenie der Bärner

Festivalkritik: Gurtenfestival 2016
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Bäckstage / © Seraina Thuma

In der CH-Festivalszene ist das Gurtenfestival - oder der «Güschä» wie ihn Bärner nennen – ein Exot. Bei keinem anderen Festival steht die Zusammenkunft dermassen an der ersten Stelle wie in Bern. Sich auf dem Festival zu zeigen gehört dazu. Wer nicht oben war, wird die paar Tage und Wochen nach dem Festival gesellschaftlich ausgegrenzt. Umso unerträglicher war für die Bärner die Einführung der personalisierten Tickets. Empörung machte sich bei jenen breit, die kein Ticket mehr kriegten. Schliesslich wolle man auf den Berg, ja müsse unbedingt auf den Berg. Aber warum? Der Musik wegen? Gerade die Bärner, die sich jedes Jahr über das Line-Up ärgern? Wohl kaum.

 

Ironischerweise kriegten die Bärner aber just dieses Jahr einen wirklichen Headliner, der den Namen verdient: Muse. Und dies gar noch am Donnerstagabend. Gute Sache könnte man denken. Doch zufrieden mit Muse war niemand so ganz. Zu hart waren sie. Zeigten zu wenig Interakation mit dem Publikum. Ganz im Gegenteil zu Travis. Die schottische Band punktete am Samstagabend und zeigte sich gutgelaunt, energiebeladen, offen, lustig, kontaktfreudig. Frontman Fran Healy spazierte entspannt durchs Publikum, machte paarmal Halt, fragte die Besucher nach ihrem Befinden und sang ein ganzes Lied auf den Schultern eines starken Mannes. Ebenso gesellig zeigte sich der Frontman der englischen Band Bastille, Dan Smith, am Samstagnachmittag und marschierte ebenso locker durch Publikum. Dies gefällt den Bärnern, die gerne unterhalten werden möchten. Der Austausch mit den Künstlern ist ein Muss auf dem Hausberg. Kein Wunder also, hatte Joris am Freitagnachmittag um 14 Uhr ein volles Zelt und sehr singlustige Zuschauer. Sein Hit «Herz über Kopf» sang das Publikum in allen Variationen (vorne, hinten, links, rechts, ausserhalb des Zeltes, Männlein vs. Weiblein) ziemlich laut und deutlich. Ähnlich viel Begeisterung gab es auf der Waldbühne. Am Freitagabend trat Manillio vor seine Bärner Gielä u Modis. Ein Fest der Feste wurde dies. Leider hatte es nicht genug Platz für alle, deshalb ging man doch auch zu Wanda, die zur selben Zeit spielten. Und den Manillio hat sowieso jeder Bärner, der was von sich hält, bereits einmal auf der Bühne erlebt.

 

Galerie zum Gurtenfestival 2016

Fotos: © Seraina Thuma

 

Wanda spielten dann auch gut. Sehr gut sogar. Aber für die Bärner Fraktion fühlte sich das dann trotzdem wie Fremdgehen an. Stichwort Fremdgehen: Beziehungsstati wurden selten so gepflegt wie dieses Jahr. Dosenbach verschenkte farbige Schuhbändeli. Orange hiess vergeben, grün dass Mann/Frau Single ist und gelb markierte «offen für Alles». Und es gab tatsächlich Festivalbesucher, die sich farbengerecht schmückten. Jedoch wirkten diese verzweifelten Liebeshungrigen dann doch eher lächerlich und im Ausnahmefall sexy. Und die meisten machten sich sowieso einen Spass daraus und flechteten dreifarbige Zöpfe. In Bärn ist man halt vieles zugleich. Single, Vergeben, Musikliebhaber und Musikkritiker. Letzteres gab es Sonntag wieder viel. Rudimental erwies sich als wenig massentauglich. Oder war es wieder die fehlende Interaktion mit dem Publikum, da die Lieder den meisten doch zu wenig bekannt waren und dies dann das Mitsingen unmöglich machte? Oder fehlte den meisten Besuchern schlicht die Stimme?

 

Um 2 Uhr morgens gab es zuvor nämlich die Tequila Boys auf der Waldbühne zu bestaunen. Eine Partyband mit Coverversionen, das gefiel. So sehr, dass die lustige Crew mit Buh-Rufen von der Bühne musste. Nicht wegen fehlender Fanliebe, ganz und gar nicht, sondern wegen der abgelaufenen Show-Zeit. Dafür hatten die Bärner - die endlich die Musikqualität erhielten, nach der sie sich 3 Tage sehnten – kein Verständnis. Mehr Backstreet Boys, mehr Modern Talking. Bitte! Doch all die Pfiffe und bösen Worte nutzen nichts. Die Show wurde nicht verlängert. Und hier zeigte sich einmal mehr, dass es vielleicht auf dem Bärner Hausberg vielen vor allem ums eine geht: «Suuuuufä». Aber bitte mit hochstehenden Acts im Hintergrund. Die Bärner leben die Schizophrenie auf dem Berg. Sie wollen hochkarätige Bands, Songs zum Mitbrüllen, jedoch auch genauso viel Zeit und Aufmerksamkeit verlorenen Klassengspändli, Exnachbarn und Affären widmen wie den Künstlern auf der Bühne.

 

Von aussen wirkt das vielleicht doof und inkonsequent, aber als Bärner wünscht man sich folgendes: Nächstes Jahr mal die Foo Fighters oder Red Hot Chili Peppers. Einfach was Rockiges und Gemütliches. Was Bärniges halt.

 

Tanja Lipak / Mo, 18. Jul 2016