Gina Été: «Ich habe mir den Begriff «Hybrid Pop» ausgesucht»

Interview mit Gina Été
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Pressebild / © ninamariaglahe

Gina Été ist leidenschaftliche Songwriterin und Musikerin, legt mit ihren Texten auch mal den Finger in die Wunde, egal ob bei politischen oder sozialen Themen, und wird dafür international gelobt. In vier Sprachen singt die Schweizerin. Vor ein paar Tagen ist ihr Debüt «Erased by Thought» erschienen. Im Zoom-Interview haben wir mit Gina über Humor und sprachliche Stilmittel, die Flüchtlingsthematik und kapitalistische Gier, John Vanderslice und natürlich viel über das neue Album gesprochen.

 

Dein Debüt «Erased by Thought» ist seit ein paar Tagen auf dem Markt. Wie fühlst du dich?

 

Ich war im Vorfeld ziemlich aufgeregt, aber seit dem Release-Tag bin ich entspannt und freue mich sehr.

 

Wieso warst du vor dem Release aufgeregt?

 

Frau investiert schon eine Menge Arbeit, der Prozess zu so einem Album ist lange. Also arbeitet frau darauf hin und dann ist dieser eine Tag da - und so schnell wieder vorbei. Es fühlt sich fast wie eine Abschlussprüfung an!

 

Hast du denn bereits Feedback bekommen?

 

Ja, ich habe schöne Nachrichten von Freund*innen bekommen, das hat mich sehr gefreut. Viele Leute, die ich nicht kenne, haben ebenfalls fleissig geteilt. Zudem gab es einige spannende Reviews, auch zwei aus Frankreich und zwei aus den Niederlanden, ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung und einen 3-seitigen Beitrag in «Berlin To Go», über die ich mich wahnsinnig gefreut habe. In Deutschland wurden in einigen Radios wie dem Deutschlandfunk Beiträge gesendet und die coolen Schweizer Lokalradios und Rete 3 spielen die Songs auch schon.

 

Wie entstehen deine Songs? Schreibst du gerne alleine oder lieber mit einer Gruppe?

 

Seit vier Jahren bin ich mit den gleichen drei Musikern unterwegs. Wir sind so eine Art Hybrid zwischen Solokünstlerin und Band. Ich schätze, ungefähr die Hälfte der Songs habe ich allein aus einem Guss heraus geschrieben, etwa «Trauma», «Mach’s gut» oder «Tired People». Ich habe mich ans Instrument gesetzt und kurz darauf waren sie auch fertig.
Andere Songs haben wir bei Proben gemeinsam geschrieben: Wir ziehen dann jeweils für eine Woche oder so in ein Ferienhaus. Dort schreibt auch mal jede und jeder für sich, danach tragen wir die Ideen zusammen. Die Texte sind immer von mir, aber die Musik von beispielsweise «Lach du nur», «For Elsa», «Troubleshooting», «Nulle part» und «All Or Nothing» sind so in der Band entstanden.

 

Auffällig ist, dass bei den Songs sehr viel passiert und wenn es kleine Spielereien im Hintergrund sind.

 

Genau. Alles, was nach Melodie, Harmonie und Text kommt, entsteht gemeinsam mit der Band. Das sind alles Profis, die von der Musik leben, da trägt jeder seinen Teil bei. Von den ganzen Gitarrenparts über den Bass bis zu den Drums haben wir alles im Studio gemeinsam ausgearbeitet.

 

 

Manche Songs sind aus einem Guss entstanden, wie beispielweise «Tired People», wo ich im Nachhinein höchstens noch einzelne Wörter getauscht habe.

 

 

Stichwort Studio. Das Album wurde bei Songwriter John Vanderslice in San Francisco aufgenommen. War das eine bewusste Entscheidung?

 

Ja, mega. Wir haben sehr viel live gespielt, aber unsere Aufnahmen klangen irgendwie nicht so lebendig, wie wir das gerne wollten. Wir hatten das Gefühl, dass die Energie nicht zündet. Also habe ich diverse Alben, die ich sehr mag, durchgeschaut und der Name John Vanderslice tauchte immer wieder auf, so bei Sachen von St. Vincent oder Death Cab For Cutie. Also habe ich John gemailt und er antwortete: «Yeah, great, love it. Let’s do this.» Superpositiv. Wir haben in der Band lange diskutiert, ob ein Flug für einen Studiotermin vertretbar ist, da wir sonst bewusst nicht fliegen. Aber er ist halt der Produzent, mit dem ich unbedingt einmal arbeiten wollte. Also haben wir das gemacht und es war mega speziell mit ihm im Studio zu sein. Er arbeitet komplett analog, also noch mit Magnetband, und entsprechend sind viele Songs live eingespielt. «Tired People» ist ein One Take. Bei «Am Tellerrand» haben wir Bratsche, Gitarre und meinen Gesang im gleichen Raum am Stück aufgenommen. Dafür sind auf dem Album einige Fehler und Dinge, die nicht sauber sind. Das hört man schon.

 

Wahrscheinlich hörst du als Musikerin solche Dinge, die sonst viele nicht bemerken.

 

Das kann gut sein. Aber die Platte ist einfach nicht geschliffen, nicht perfekt. Im Zentrum stand eher die Energie, die wir beim Spielen hatten.

 

Im Opener «Trauma» erzählst du von der Flüchtlingsthematik. Du hast selbst auf Lesbos geholfen und mit Flüchtlingen gearbeitet. Hat dich die Arbeit zum Song inspiriert oder umgekehrt?

 

Der Song ist schon nachher entstanden. Weil ich vor Ort als Person, die es gut meint und helfen will, irgendwie nichts wirklich ausrichten kann, weil ich in diesem Rahmen machtlos bin. Ich bin im Endeffekt ein kleines Rädchen in der Mühle der europäischen Migrationspolitik, die mich an deren Grenzen bringt. Bei der Rückkehr war viel Enttäuschung dabei. Da leben Menschen, die schon so lange am gleichen Ort sind und einfach nicht wegkommen. Und ich kann kurz hin und versuchen, irgendwie zu helfen, aber im Grunde bringt das zu wenig. Es muss sich politisch etwas ändern. Die Schweiz könnte beispielsweise für legale Fluchtwege sorgen oder 5% der Geflüchteten aus den griechischen Camps ins Land holen. Das Lied ist aus diesem Frust über die Situation heraus entstanden. Weil halt die europäische Politik aktiv nichts dazu beitragen will, die Lage zu verbessern.

 

Im Song arbeitest du mit dem Stilmittel der Fragen. Wie bist du an den Text gegangen? War von Anfang an klar, dass du Fragen à la Bob Dylan nutzen willst oder hat sich der Text erst mit der Zeit ergeben?

 

Bei dieser Thematik war für mich klar, dass ich keine Aussagen treffen kann, da es nicht meine Geschichte ist. Daher ist die einzige klare Aussage im Text «es tut mir leid». Ich wollte mich entschuldigen, weil unsere Politik nichts an deren Lage ändert. Das kann ich tun. Aber ich kann nicht für eine Person sprechen, die fliehen musste. Ich habe das nie erlebt. Intuitiv ist daraus der Ansatz entstanden, mehr wissen und verstehen zu wollen.
Das Video dazu hat eine Freundin von mir - die Zürcher Regisseurin Jelena Vujovic - gedreht. Sie geht darin direkt auf die Thematik der illegalen Fluchtwege ein. Sie ist da persönlich näher dran, ihre Familie ist damals aus dem Kosovo geflohen. Darum kann sie auch klarere Aussagen treffen.

 

Gine Été - «Trauma»

 

Mir ist «Troubleshooting» ebenfalls sehr im Kopf geblieben, weil hier eine feine Ironie und dezenter Humor mitschwingt, wenn es um die Tücken der Technik geht. Diese humoristische Seite ist ebenfalls ein Teil von dir.

 

Ja eh. (lacht) Dort habe ich aus Wut geschrieben, weil irgendein technisches Gerät kaputt war und statt es zu reparieren, hat man lieber versucht, mir ein neues anzudrehen. Dabei war es erst zwei, drei Monate alt. Ich finde aber sowieso, dass frau mit gewissen Sachen humorvoll umgehen muss, damit frau sie aushält. Zudem ist die Musik nicht Aktivismus, sondern ich drücke Sachen aus, die mich beschäftigen. Zum Teil sind das dann grössere politische Anliegen, aber halt auch mal alltägliche Kämpfe.

 

Die Sprache ist dir aber schon wichtig, oder? Jedenfalls nutzt du in manchen Texten eine scharf geschliffene Klinge. Wie lange schleifst du an den Lyrics?

 

Es ist unterschiedlich. Manche Songs sind aus einem Guss entstanden, wie beispielweise «Tired People», wo ich im Nachhinein höchstens noch einzelne Wörter getauscht habe. Aber mir ist auf alle Fälle sehr wichtig, was ich sage und aus welcher Position ich das tue und nicht zuletzt, wen ich anspreche. Ich nutze die verschiedenen Sprachen zudem, weil sie meine Sicht verändern können. In einer Fremdsprache habe ich mehr Distanz zu mir selbst als in der Muttersprache. Die Muttersprache ist quasi die, die direkt aus mir heraus spricht und Englisch oder Französisch bieten neue Perspektiven auf mich, auf die Welt oder auf alles, was mir sonst wichtig erscheint.

 

Entscheidest du intuitiv, welche Sprache du für einen Song nutzt?

 

Ich glaube, bei Songs, die schnell aus einem Gefühl heraus entstehen, wähle ich die Sprache intuitiv so, dass sie zum Gefühl passt. Ein Beispiel für das Gegenteil ist «Lach du nur». Der Song ist gemeinsam mit der Band entstanden. Zuerst war das Gitarrenriff da und ich habe dazu gesungen und verschiedene Sprachen ausprobiert, um zu sehen in welcher Sprache etwas passt, bis irgendwann der Refrain stand und der war dann halt in Schweizerdeutsch.

 

Du hast ein mutiges Album aufgenommen. Mutig, weil du sehr persönlich bist, Position beziehst und auch Themen jenseits der heilen Welt aufgreifst. Das könnte manchen Menschen nicht so gut gefallen. Bekommst du negatives Feedback?

 

(überlegt kurz) Es gab bisher zwei Nachrichten über Facebook von Leuten, die einen Text doof fanden und mit einer Hassnachricht darauf reagiert haben. Aber in solchen Fällen denke ich mir, da lohnt sich das Diskutieren gar nicht. Ich bekomme eher mal Nachrichten von Leuten, die verstört sind und nicht damit umgehen oder einordnen können. Aber das ist ok.

 

 

Ich glaube, bei Songs, die schnell aus einem Gefühl heraus entstehen, wähle ich die Sprache intuitiv so, dass sie zum Gefühl passt.

 

 

Interessant ist, dass du auf dem Album sehr wandelbar bist. Bei «Trauma» fühlt man sich an Beth Gibbons von Portishead erinnert, bei «Mach’s gut» an Gisbert zu Knyphausen. Wo siehst du deine prägenden Einflüsse?

 

Alles was ich an Vergleichen höre, wie Portishead oder Massive Attack oder Gisbert, sind Leute, die ich selbst mal gehört habe und ich denke oft «Ah ja, da ist an allem etwas dran». Ich habe mir mit der Zeit den Begriff «Hybrid Pop» ausgesucht, weil er die verschiedenen Einflüsse und vielleicht auch die Zerrissenheit zusammenbringt. Ich glaube, Zwiespalt ist etwas, was mich auch in der Musik begleitet. Ich habe aber keine Lust, einen Teil von mir auszuschliessen und zu sagen, «Ich mache nur das, weil es in irgendeinem Indie-Clubs besser ankommt». Es sind genau die Werke, die mich interessieren, Alben oder Bücher, die mit den eigenen Erwartungen brechen. Wenn ein Song beginnt und er ein Bild erweckt, kurz darauf aber damit bricht, entstehen doch die spannendsten Momente, weil man sich fragt, was passiert ist. Vielleicht stellt sich dann die Frage, in welchen Stereotypen man immer gedacht hat? Diese Momente liebe ich!

 

Été heisst im Französischen ja Sommer. Den Begriff verbindet man schnell mit guter Laune, Sonne und einer guten Zeit. Das beisst sich etwas mit manchen deiner Songs. Wie viel Absicht steckt in der Wahl deines Namens?

 

Ich habe mir den Namen zu einer Zeit ausgesucht, als ich mit der Musik angefangen habe. Damals habe ich Été aus Gründen gewählt, aus denen ich ihn heute nicht mehr nehmen würde. Vielleicht bin ich inzwischen aber reingewachsen. Lustig finde ich, dass man Rezensionen direkt ansieht, ob sich die Journalist*innen mit der Musik auseinandergesetzt haben oder einfach denken «Ah, Sommer, gute Laune, Chanson». Daran merke ich sofort, dass sie kaum reingehört haben. Wenn sie aber darüber nachdenken und feststellen, dass die Musik eher zerrissen und melancholisch ist, nicht so zu «Sommer» passt, fasziniert mich genau dieser Kontrast, der entsteht. Und das Wort Été hat ja doch je nach Aussprache andere Bedeutungen. «Gewesen» zum Beispiel im Französischen.

 

Das schliesst bei dir einen Kreis zur sprachlichen Vielfalt.

 

Darum habe ich akzeptiert, dass ich halt Été heisse und viele Leute im ersten Moment an Sommer denken und dann sehr überrascht von der Musik sind. (lacht)

 

Zum Schluss: Kannst du aktuell schon planen, was Konzerte angeht?

 

Genau, das erste Konzert war am 2. Juni in der Roten Fabrik. Dann spielen wir am 23. Juni im bee-flat im Progr. Aber diese beiden Shows haben sich sehr spontan ergeben. Wirklich in Planung sind Konzerte ab Oktober. Dann werden wir sicher in Basel, Zürich, Bern, Luzern und Winterthur spielen. In den letzten Jahren habe ich oft in Frankreich und Deutschland gespielt und das schauen wir gerade auch an. Aber es ist schwierig zu planen ohne major Booking-Agentur im Rücken, die darauf angewiesen ist, dass ich spiele. Viele kleine, private und alternative Menschen und Clubs haben aufgehört zu planen und warten klare, anhaltende Massnahmen oder Lockerungen ab. Aber ich fänd‘s wunderbar, wenn im Herbst auch Strasbourg, Berlin oder Köln wieder möglich werden! Aber es geht sowieso weiter, ich habe mit der Band schon fast ein neues Album geschrieben. (lacht)

 

Besser du hast neue Songs als dass dich eine Schreibblockade trifft.

 

Nein, es gibt immer genug Material, um drüber zu schreiben. Eine Schreibblockade hatte ich bisher noch nicht.

 

Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast.

 

Bäckstage Redaktion / Di, 08. Jun 2021