«Lad dir Tinder runter»
Sigi ist Bauarbeiter und verbringt seine Tage auf dem Bau. Doch obwohl es sich hier lediglich um eine Lohnarbeit handelt, wird Sigi konsequent als Mensch ignoriert und lediglich durch seine berufliche Funktion definiert. Dabei prallen ihm Distanz, Ignoranz, aber auch Opportunismus entgegen. Auf der Suche nach Nähe und Liebe begegnet er einer jungen Freikirchlerin. Von seinen negativen Erfahrungen geprägt, gibt er sich bei ihr als hipper Werbe-Manager. Eine Fassade mit brüchiger Entwicklung.
Hans Kaufmanns Erstling brilliert durch Realismus und Schnörkelosigkeit. Er zeigt das Leben des Buezers in seiner rauen und grauen Form. Dadurch erweckt er grosse Sympathien für die Titelfigur und auch die Lüge mit der Profession nimmt man ihm nicht übel. Doch je verzweifelter Sigis Situation und Taten werden, desto künstlerischer wird das Ganze eingefangen. Mit dem Einsatz von klassischer Musik untermauert Kaufmann die Tragik der von Joel Basman gespielten Titelfigur. Basman spielt stark und intensiv wie man es von ihm kennt. Beide, Kaufmann und Basman, liefern erstklassige Arbeit ab, trotz der finanziellen Low-Budget-Verhältnisse. Viel Kunst mit wenig Geld. Chapeau.
Bäckstage traf Hans Kaufmann und Joel Basman bei der Premiere in Bern zum Interview und erhielt dadurch mehr Einblicke in die Produktion und Hintergründe des Filmes.
Herzliche Gratulation. Ein beeindruckender, mutiger Erstling. Wie viel Kalkül lag in der Wahl des Themas bzw. des Sujets?
Hans Kaufmann: Überhaupt kein Kalkül. Ich wollte die Geschichte, den Alltag von Freunden erzählen. Es war mir auch wichtig, ein anderes Zürich zu zeigen, gegen die «Status-Stadt-Zürich» zu kämpfen und das Gleiche mit der Thematik der Freikirchen. In meiner Jugend verlor ich den Kontakt zu ein paar guten Skater-Kollegen, die sich von mir ab und zur Freikirche hinwandten. Auch die Werbeszene, in der ich gearbeitet habe, wollte ich ein wenig auf’s Korn nehmen. In diesem Sinne ist es ein sehr persönlicher Film, ohne aber meine persönliche Geschichte zu erzählen. Es sind meine Beobachtungen, meine Reflexionen.
Du warst eine Art Wonder Man bei dieser Produktion: Schnitt, Regie und Drehbuch stammen von dir. Gefällt dir diese Art zu arbeiten am besten?
Am liebsten schon. Das Problem an der Schweiz ist, Drehbücher fliegen hier nicht einfach so herum, du musst als Filmemacher selber aktiv werden. Doch diesen Schnitt mache ich enorm gerne und habe sehr Mühe, diesen abzugeben. Schnitt ist für den fertigen Film, für die Endfassung, das wichtigste Instrument.
Musik, insbesondere klassische Musik, spielt im Film eine grosse Rolle. Wie die von Richard Wagner.
Ich höre persönlich sehr gerne klassische Musik und beim Dreh wusste ich nicht, ob das passt oder nicht, aber im Schnitt konnte ich ausprobieren. Der andere, praktischere Grund für Wagner war, dass ich kein Geld mehr für das Abspielen seiner Musik zahlen musste. (lacht)
Die Hauptfigur Sigi, der Buezer, macht eine starke Wandung im Film durch. Zu Beginn erfahren wir, dass seine Eltern gestorben sind. Wie sehr hängt dies zusammen?
Es gibt verschiedene Studien, die besagen, dass die ersten fünf Jahre sehr prägend für ein Kind sind. Wenn es von seinen Eltern zu wenig Liebe und Nähe erhalten hat, steht es sehr unsicher auf den Beinen. Dort war mir der Background wichtig, dass dieser Aspekt stimmt. Man erkennt, dass aufgrund des Verlusts der Eltern die Figur Sigi ständig auf der Suche nach Liebe und Anerkennung ist. Dies braucht er, dass ist seine psychologische Motivation. Am Anfang des Films drehen sich die Gespräche auch immer darum. «Lad dir Tinder runter.», «Das ist eine Gute, aber du musst mal wieder durchvögeln.» und so weiter. Und auch sein Intermezzo mit der Freikirche bestärkt seine Sehnsucht nach Nähe. Dort zeigt sich auch, dass die Freikirche nicht immer tut, was sie predigt.
Du setzt nicht nur den Freikirchen einen Spiegel vors Gesicht, sondern auch der Werbeszene. Wie haben deinen Kollegen aus der Werbezeit darauf reagiert?
Ein paar waren an der Premiere und mussten lachen, weil sie sich wiedererkannt haben. Die Werbung ist ein extrem oberflächliches Business. Das ist das A und O des Auftragfilmbereichs. Niemand würde eine coole Shampoo-Werbung machen, weil es absolut keinen Inhalt hat, ausser natürlich jenen ein Produkt zu bewerben. Diese Kollegen haben sich ein wenig im Film wiedererkannt, weil man in dieser Branche ist und das dann dein Lebensmittelpunkt wird. Du hast das Gefühl, das was du machst, bewegt die Welt. Und so ist es zum Glück nicht.
Und zu guter Letzt: wie bist du zum Film gekommen?
Ich habe angefangen Skate-Filme zu machen. Dort ist mein Homemade Oneman Show-Ding herausgekommen. Ich habe mir den Filmprozess mit immer so vorgestellt: Jemand will etwas drehen, tut dies und schneidet zuhause das Material zusammen. Erst im Studium an der ZhdK fiel mir auf, wie viele verschiedene Funktionen es noch gibt. Ich habe dort diese andere Form ausprobiert, aber am Schluss kam ich wieder auf meinen eigenen Weg zurück, der mir nach wie vor am besten liegt.
Trailer zu «Der Büezer»
Joel, du hast schon sehr viele Rollen gespielt, zuletzt Wolkenbruch, eine Romanfigur. Fiel dir die Arbeit beim «Buezer» einfacher, weil du Buetzer jeden Tag siehst, im Zug, Tram oder bei der Arbeit?
Joel Basman: Das Wichtigste ist, dass man es nicht übertreibt und versucht sich auf das Simple, Grundlegende zu konzentrieren. Wir sind im Jetzt, was mache ich, wie sieht mein Alltag aus, was ist mein Gedanke, wenn ich am Morgen aufstehe? Denke ich über das Leben nach oder denke ich über meine Arbeit nach? So gehe ich an die Rollen ran. Die Rolle des «Buezer» ist mir schon näher, allein deswegen, weil es im Jetzt spielt und ich nicht drei Jahre jemanden suchen muss, um den Beruf kennenzulernen wie beispielsweise bei einem Psychopathologen oder Spezialisten für Herzchirurgie. Ich habe Freunde, die auf dem Bau arbeiten. Du triffst dich mit ihnen, gehst mit ihnen auf den Bau und fertig, schon hast du Material zum Arbeiten.
Im Abspann des Films werden Millieuberater genannt. Wie viel liesset du dich von ihnen unterstützen? Wie viel hast du selbst auf eigene Faust erkundet?
Die Millieuberater waren für uns vor allem Türöffner, damit wir an den Originalschauplätzen drehen durften wie bspw. in einem Bordell. Damit wir an einem Ort drehen können, an dem Kameras nicht erwünscht sind. Im Milieu ist eine Kamera schlimmer als ein Polizist. Es gibt Menschen, die anschaffen und niemand weiss, dass sie anschaffen. Es gibt Menschen, die illegal anschaffen. Es gibt Menschen, die Drogen verkaufen, Menschen, die gesucht werden und all diese Menschen wollen keine Kamera um sich. Da brauchst du Menschen, die vermitteln und sagen, «Hey die sind cool, die gehören zu uns». Es ist kein Spiegel TV-Investigativjournalismus. Plötzlich hast du Freilauf. Ich musste jetzt nichts über das Milieu wissen, weil ich als Buezer Sigi nicht aus dem Milieu bin, ich lerne das Milieu kennen. Mich hat dies weniger betroffen als Regisseur Hans und Nebendarsteller Andrea Zogg.
Und fühltest du dich besonders beobachtet als ihr an den originalen Schauplätzen gedreht habt?
Es ist ein Ort, an dem nichts unbeobachtet passiert. Es ist immer jemand am Arbeiten, auf der Strasse, 24 Stunden, 7 Tage die Woche. Du kannst dort nichts Geheimes machen. Man gewöhnt sich daran, alle gewöhnen sich aneinander. Nach dem dritten Tag war es voll cool.
Du bist im Kreis 4 aufgewachsen. (Joel nickt) Hat dies auch einen Einfluss auf den Dreh gehabt.
Wir drehten ein paar Minuten von dem Ort entfernt, an dem ich auf die Welt kam und an dem ich aufgewachsen bin. Ich fühle mich dort wohl. Von dem her ist es nichts Spezielles. Ich hatte Huren als Nachbarn, das war normal, ich wusste was ein grünes und ein rotes Licht für Bedeutungen haben. Du wusstest, woher welche Sprache stammt. Das alles war normal. Deshalb war es für Hans und mich jetzt nicht fremd. Wir kannten es von früh an. Und wir dürfen heute dort auch noch vorbeilaufen, ohne böse Blicke zu ernten. (lacht)
Was ist mit den echten Bauarbeitern, die im Film vorkommen und sich selbst ein wenig verkörpern. Haben dich die Jungs nach Schauspieltipps gefragt?
Es war eher umgekehrt. (Joel lacht) Ich habe sie immer wieder ausgefragt, ob dies nun eine 110er oder 130er Schale ist. Ich konnte viel von der Fachsprache von ihnen lernen. Ich konnte ihnen natürlich am Morgen um 6 Uhr Tipps geben wie «alles easy» oder «seid entspannt, bleibt wer ihr seid». Den auch die Coolste und der Coolste werden nervös, wenn eine Kamera auf sie gerichtet ist und sie sich das nicht gewohnt sind. Je mehr wir gedreht haben, desto besser haben sie sich an die Kamera vor ihrem Gesicht gewöhnt und gaben dadurch eine stetig bessere Leistung ab.
Letzte Frage: «Wolkenbruch» wird von der Schweiz ins Rennen für den besten fremdsprachigen Film geschickt. Wie hoch malst du dir deine Oscar®-Chancen aus?
Es gibt viel zu viel Krieg auf dieser Welt, als das eine Komödie gewinnen könnte. Es sind begehrte fünf Plätze und 90 Bewerber. Da muss ich die Rechnung nicht aufschreiben, das ist ein harter Kampf. Aber alles ist möglich. (lacht)
- «Der Büezer» läuft in den Schweizer Kinos.