Das Knistern in der Luft

Moviekritik: Kuessipan
Bildquelle: 
trigon-film.org, zVg

Bei «Kuessipan», was so viel wie «Ihr seid am Zug» oder «Du bist dran» bedeutet, liegt permanent ein leises Knistern in der Luft. Es ist der Geist der Vergangenheit, einer tief verwurzelten Kultur, der ehrwürdigen Symbiose mit den Traditionen und dem Land der Ahnen. Aber es ist ebenso der Geist der Zukunft, des Aufbruchs, der Jugend, die sämtliche Grenzen ihrer Welt bricht und neue Dinge erleben und entdecken will. Das Leben mit der Innu-Community im Reservat bei Québec hat seinen ganz eigenen Rhythmus, aber ein Knistern liegt konstant in der Luft. Rund um die Stromleitungen, die stoisch ihren Weg durch das Reservat ziehen, sogar nicht mehr nur symbolisch, sondern regelrecht hörbar.

 

Dieses Knistern findet sich auch im Leben von Mikuan (Wunderbar: Sharon Fontaine-Ishpatao) und Shaniss (Yamie Grégoire). Der Film empfängt uns über die beiden Innu-Mädchen, die mit Stirnlampen ausgerüstet Fische einsammeln. Sie albern und lachen dabei, wie das Freundinnen halt tun. Als wenig später Shaniss zu ihrer Tante ziehen muss, weil es zuhause Probleme gibt, reisst Mikuan kurzerhand aus, um die Freundin im 15 Autominuten entfernten Haus der Tante zu besuchen. Freundinnen halten schliesslich zusammen. Sie läuft zu Fuss durch wunderschöne Landschaften, aber auch trist wirkende Siedlungen. Diese Gegensätze sind wuchtig, bleiben aber ohne Wertung. Man kann sie selbst in das vielseitige Bild einordnen.

 

Keine Wertung, dafür «Leben und leben lassen»

 

Dann macht der Film einen Zeitsprung. Inzwischen sind die Freundinnen an unterschiedlichen Wegkreuzungen des Lebens. Mikuan sehnt sich mit jeder Faser ihres Körpers nach der weiten Welt ausserhalb des Reservats, will reisen, schreiben, lernen, lieben und ihren Horizont erweitern. Shaniss dagegen hat sich mit ihrem Leben im Reservat arrangiert, treibt irgendwie hilflos im Leben und zieht das erste Kind mit dem gewalttätigen Freund auf. Die Lebensentwürfe laufen diametral auseinander und trotzdem halten die Freundinnen zusammen. Vorerst, denn die schüchterne Mikuan verliebt sich in einen Kommilitonen, der nicht aus der Innu-Gemeinschaft ist. Das sorgt immer wieder für Spannungen. Die Stärke von «Kuessipan» ist klar, dass keine Wertung stattfindet und eher das Credo «Leben und leben lassen» gilt.

 

Szenenbilder: ©trigon-film.org

 

Die kanadische Regisseurin Myriam Verreault hat sich für «Kuessipan» intensiv mit dem Leben der Innu beschäftigt, mehrfach das Reservat, in dem circa 20‘000 Innu leben, besucht und gemeinsam mit der Autorin der Vorlage, Naomie Fontaine, den Traditionen genähert. Die Arbeit am Drehbuch dauerte von 2014 bis 2019. Das spricht dafür, dass die Regisseurin sich wirklich mit Herz und Seele dem Projekt verschrieben hat. Verreault war sehr wichtig, einen Film mit den Innu zu drehen und nicht nur über sie. Diesen Gedanken transportiert der Film zu jeder Zeit. Also hat die engagierte Filmemacherin den Roman nur als Grundlage genommen und gemeinsam mit Fontaine, die selbst Innu ist, neue Zugänge zur Geschichte und der Kultur der Ureinwohner gefunden. Die beiden Freundinnen Mikuan und Shaniss wurden für den Film beispielsweise neu geschrieben. Bei der Besetzung bzw. der Zusammenstallung der Filmcrew wurde generell stark auf die Innu-Community gesetzt. Viele Darstellerinnen und Darsteller haben keine Erfahrung und trotzdem lebt der Film stark von ihrem Spiel bzw. ihrer Authentizität. Die zwei Frauen zeigen dabei viel Fingerspitzengefühl und Empathie, was man dem Film in jeder Sekunde anmerkt – nicht zuletzt, weil man irgendwann vergisst, dass man Schauspielerinnen und Schauspielern zusieht.

 

Mikuans Worte aus dem Off begleiten den Film

 

So viel Wert der Film auf die Herzlichkeit der Menschen im Reservat legt, so knallhart ist er auch bei der Realität. Alkohol, Armut, Gewalt oder Frustration und das Leben mit der kolonialen Vergangenheit werden nicht beschönigt, sondern als Teil des täglichen Lebens unaufdringlich eingeflochten. Allerdings bringt die Liebe, die Geborgenheit in der Gemeinschaft und die Solidarität unter den Innu alles wieder in die Waage. Dass das Land ihrer Ahnen für den Abbau von Bodenschätzen missbraucht werden soll, wird sogar in der Schule heiss diskutiert und unterstreicht damit die politische Ebene im täglichen Leben, wenn die Gegensätze zwischen Reservat und der nahen Stadt knallhart kollidieren. «Kuessipan» will aber nicht primär anklagen, sondern ein Prisma der täglichen Ups and Downs einer kleinen Gruppe von Menschen sein. Das gelingt hervorragend, weil man die vielen Charaktere – allen voran Mikuan und Shaniss – sofort ins Herz schliesst, mit ihnen freiert, mit ihnen leidet und sich freut, irgendwie in ihrer Mitte aufgenommen zu sein. Zusätzlich ist ein brillanter Kniff, dass die Gedanken und Gedichte von Mikuan den Film oft und ohne Kitsch aus dem Off begleiten und einordnen. So bringt die junge Frau durch ihre feinfühligen Worte das Knistern des Films in unsere Herzen und sorgt für einen emotionalen Schluss.

 

«Kuessipan» ist ein ruhiger, aber poetischer Film, der das Leben zwischen Tradition und Moderne abbildet. Dabei gelingt es oft, zu berühren.

 

  • Kuessipan (Kanada, 2019)
  • Regie: Myriam Verreault
  • Drehbuch: Myriam Verreault, Naomi Fontaine
  • Besetzung: Yamie Grégoire, Sharon Fontaine-Ishpatao, Claude Vollant, Étienne Galloy, Cédrick Ambroise
  • Laufzeit: 117 Minuten
  • Kinostart: 12. August 2021

 

Patrick Holenstein / Do, 12. Aug 2021