Und all das, was hätte sein können

Movie-Kritik: Nachtzug nach Lissabon
Bildquelle: 
www.frenetic.ch

Der Berner Lateinlehrer Raimund Gregorius (Jeremy Irons, «Die Hard – Jetzt erst recht», «Margin Call») wird eines Tages durch den Selbstmordversuch einer jungen Frau jäh aus seinem drögen Alltagstrott herausgerissen. Er kann ihren Sprung von der Kirchenfeldbrücke zwar vereiteln, doch nur kurze Zeit später macht sich die Dame aus dem Staub und hinterlässt bloss ihren Mantel und ein Buch mit dem blumigen Titel «Ein Goldschmied der Worte». Obwohl er vom Verfasser Amadeu de Prado noch nie gehört hat, erschüttern ihn dessen philosophische Überlegungen. Der junge Portugiese fühlte sich durch widrige Umstände der Erfüllung seiner Herzenswünsche beraubt und haderte mit düsteren Zukunftsaussichten. Ein Umstand, den Gregorius gut nachvollziehen kann, glaubt er doch selbst, einige wichtige Dinge im Leben verpasst, zumindest aber verloren zu haben. Als er zwischen den Seiten ein Ticket für den Nachtzug nach Lissabon entdeckt, sucht er den Perron auf, in der Hoffnung der jungen Frau noch einmal zu begegnen. Doch diese bleibt fern und so springt der Verstandesmensch kopflos auf den Zug. Ohne Gepäck und - ganz unschweizerisch - ohne die Einwilligung des Arbeitgebers. Zu besessen ist er davon, herauszufinden, was schliesslich aus dem tiefgründigen Wortakrobaten Amadeu wurde. Nach und nach sucht er dessen alte Freunde und Weggefährten auf. Nicht alle sind von Gregorius‘ Neugierde gleichermassen begeistert, denn sie scheucht böse Geister aus Portugals schmerzlichstem Geschichtskapitel auf … 

 

 

Bild 1: Gregorius überschreitet seine Grenzen und setzt sich in den Nachtzug nach Lissabon. Daraus ergeben sich (Bild 2) wunderbare Begegnungen. (Mit Maus über Bild fahren) 

 

Irons wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, erneut mit dem dänischen Regisseur Bille August in Portugal zu drehen. Bereits 1993 hatten sie dort, von massivem Staraufgebot flankiert, das viel gerühmte «Geisterhaus» errichtet, und auch dieses Mal holte Bille wieder eine erlesene Schauspielergruppe vor die Kamera. Zu reichhaltig die Ballung an Ausstrahlung und Talent, um alle Namen und Referenzen einzeln zu benennen. Viel erwähnenswerter die Harmonie, mit der die Truppe interagiert und wie köstlich die jungen und alten Versionen der Figuren einander optisch ähneln. Noch immer versteht es Bille hervorragend, Tiefen und Abgründe der Charaktere aus den Schauspielern zu holen oder Fiktion in erlebbare, bildergewaltige Realität zu verwandeln. Man kann förmlich die Sonnenstrahlen auf der Haut spüren, den verottenden Fisch in den verfallenden Gassen riechen und den dunklen Tropfen auf der Zungenspitze schmecken. Gekonnt entfaltet er die Story mit Rückblenden, bis das Geheimnis um eine tragische Dreiecksgeschichte bitter offen liegt. Dass der Film zu dem Punkt bereits knöcheltief im Säuselschmonz watet, ist ein heutzutage schon fast unausweichliches Zugeständnis an den aggressiven, argusäugigen Konzerndollar der Unterhaltungsindustrie. Es soll der emotionalen Wucht des Gesamtwerks nur bedingt Abbruch tun. Den Liebhabern des Buches sei versichert, dass Bille den Weltbesteller respektvoll in ein nur leicht phasenverschobenes Paralleluniversum getragen hat. Schriftsteller Mercier jedenfalls war nach der Vorführung derart begeistert, dass er den Film gleich nochmals sehen wollte. 

 

Bild 1: Auf der Suche nach Amadeu, einem portugiesischen Autor, bekommt Gregorius Hilfe von Mariana. Bild 2: Die erwachsene Estefania schwelgt in Erinnerungen an Amadeu. 

 

Gerade wir Helvetier werden von dem Streifen an der Haustür abgeholt, nämlich gleich zu Beginn am Bahnhof Bern, der Heimatstadt von Peter Bieri, welcher unter dem Pseudonym Pascal Mercier die Romanvorlage lieferte. Es treten auf die «Schauspielschätzlis National» Ganz und Müller-Drossaart und überhaupt bedient die Geschichte das in jedem Eidgenossen schlummernde Verlangen, einmal den ganz grossen Ausbruch aus der gesicherten, aber gleichzeitig kleinen, grauen Existenz zu wagen. Manch einen wird nach dem Verlassen des Saals die gleiche Frage wie Amadeu verfolgen. Wenn die meisten Menschen nur einen kleinen Teil von dem leben, was in ihnen steckt …. was geschieht dann mit dem ganzen Rest - mit all dem, was hätte sein können? Vielleicht aber ist das einfach die falsche Frage. Vielleicht sollte sie besser lauten; ist es wirklich jemals zu spät, die Weichen neu zu stellen? Wenn selbst ein paar junge Portugiesen im Angesicht brutaler Repressalien einer Militärdiktatur den Mut zum Kurswechsel des eigenen Schicksals aufbringen konnten, welch triftigen Grund zum Verharren in – falls gegeben - seelenloser, totgetrampelter Routine haben dann freie Bürger einer stabilen Demokratie?

 

- Das Interview mit Christopher Lee gibt es HIER

- Das Interview mit Jeremy Irons gibt es HIER

 

 

  • Nachtzug nach Lissabon (2013 / Deutschland, Schweiz, Portugal)
  • Regie: Bille August
  • Drehbuch: Pascal Mercier, Gregg Latter
  • Buchvorlage: Pascal Mercier
  • Besetzung: Jeremy Irons, Jack Huston, Melanie Laurent, Christopher Lee, Bruno Ganz, Lena Olin, August Diehl, Hanspeter Müller-Drossaart
  • Budget: ca. 7.7Mio €
  • Dauer: 110 min.
  • Kinostart: 7. März 2013
Mike Mateescu / Di, 05. Mär 2013