"Unsere Welt ist eine Illusion"
Der Zürcher Künstler Sebastian Möhr bringt den philosophischen Sci-Fi-Thriller „eXistenZ“ auf die Theaterbühne. Im Gespräch erzählt er, was ihn an dem Film so fasziniert und welche Gefahren virtuelle Welten mit sich bringen können.
1999 kam der Film „The Matrix“ in die Kinos – und warf hohe Wellen. Nicht nur atemberaubende Action begeisterte die Zuschauer, sondern auch die Fragen die der Streifen aufwarf, zum Beispiel; wie leicht lässt sich unsere Wahrnehmung täuschen? Im selben Jahr, im Schatten des grossen Mainstream-Erfolgs „Matrix“, erschien David Cronenbergs eXistenZ, ein Film, der dasselbe Thema auf eine andere Art und Weise abhandelt. Die verehrte Gamedesignerin Allegra Geller (Jennifer Jason Leigh) stellt ihr neues Videospiel „eXistenZ“ vor. Durch eine Art Nabelschnur werden dessen Spieler mit einem organischen Controller verbunden und tauchen in eine völlig neue Welt ein – eine Welt, die unserer haarscharf gleicht. Als auf der Pressekonferenz ein Attentat auf Allegra verübt wird, das sie überlebt, erhält der Marketingpraktikant Ted Pikul (Jude Law) den Auftrag, mit ihr zu flüchten und sie zu beschützen. Auf der Flucht überredet Allegra den skeptischen und spielunerfahrenen Ted, sich auf eine Runde eXistenZ mit ihr einzulassen. So tauchen die beiden in die Parallelwelt ein – und bald wissen weder sie noch der Zuschauer, wo das Spiel aufhört und der bittere Ernst der Realität beginnt.
Fasziniert von der Thematik, beschloss der Drehbuchautor und Schauspieler Sebastian Möhr, den Film als Vorlage für ein Theaterstück zu nehmen, das er mit seiner Gruppe „Teatro Orfeo“ aufführen wird. Zum Zeitpunkt des Interviews hat er nach eigenen Angaben rund 2/3 des Stückes geschrieben.
Bäckstage: Was hat der Film eXistenz in Dir ausgelöst, als Du ihn zum ersten Mal gesehen hast?
Sebastian Möhr: Er ist mir richtig eingefahren. Als Zuschauer wird dir zusammen mit den Protagonisten der Boden unter den Füssen weggezerrt, und bald weisst du nicht mehr, was real ist und was nicht.
Worum geht’s?
Virtuelle Welten wie „Second Life“ oder Videospiele zielen schon heute darauf ab, immer realistischer zu werden. Die sinnliche Ebene jedoch ist noch wenig ausgeprägt: Wir können die virtuelle Welt weder riechen noch fühlen. Der Film zeichnet eine Zukunft, in der diese Hürde überwunden ist. Die Spielwelt gleicht der unseren bis ins Detail.
Warum begibt man sich denn dahin?
Beispielsweise, um vor seinem tristen Leben zu flüchten. Das geschieht in einer leichten Form schon heute mit dem Internet. Doch Eskapismus gibt es nicht erst seit dem Technologiezeitalter. Schon Tolkien wurde beschuldigt, er hätte die Leser in seine „Herr der Ringe“-Fantasywelt und somit von ihrem Leben weggelockt. Darauf antwortete er: Wieso sollte man jemandem, der sich im Gefängnis befindet vorwerfen, dass er versucht auszubrechen? Oder zumindest über andere Themen nachdenkt als über Wärter und Kerkermauern.
Wie ist das für die Protagonisten?
Ted, die Identifikationsfigur fürs Publikum, hat keine Ahnung von dieser Art Spiel und ist ihr gegenüber auch skeptisch. Er muss sich erst überreden lassen. Aber dann findet er - zumindest vorübergehend - gefallen daran, einzutauchen und in andere Rollen zu schlüpfen. Allegra, die Gamedesignerin, nimmt einerseits die Rolle des Mephisto ein: Sie verführt Ted. Gleichzeitig hat sie mit ihrer absoluten Liebe zum Spiel auch etwas Kindliches.
Ist es nur Liebe?
Nein, es ist auch eine Sucht. Allegra ist ein Junkie, ein Junkie ihrer eigenen Schöpfung. Und da taucht die Frage auf: Wer erschafft wen? Der Mensch formt seine Werkzeuge, und am Schluss sind es die Werkzeuge, die den Menschen formen.
In einer Szene sagt Allegra zu Ted: „Niemand fährt mehr physisch Ski.“ In dieser Zukunft hat die virtuelle Welt die Realität überholt.
Ja um Himmels Willen, das ist doch heute schon fast so. Die Bündner Berge musst Du künstlich beschneien, damit du Skifahren kannst. Im Spiel hat es immer Schnee und du hast immer die besten Pisten zur Verfügung. Sollten wir irgendwann Games haben, in denen man auch noch den Wind auf der Haut spürt, werden die wirklich zur Konkurrenz. Ist ja auch viel günstiger. Ich weiss, es hört sich krank an. (lacht)
Was bedeutet das für uns, wenn Spiele so hyperrealistisch werden?
Sobald die echte und die Game-Wirklichkeit genau gleich sind, sind sie einander nicht mehr hierarchisch unterstellt. Wenn ich heute ein Videospiel starte, dann ist das meiner Wirklichkeit untergeordnet. Ich sitze hier und drücke Knöpfchen auf dem Controller. Wenn ich aber ganz ins Spiel eintauche, kommt die Frage auf: Welche Realität ist heiliger?
Ted fürchtet immer wieder, den Bezug zur Realität zu verlieren.
Das ist eine Gefahr. Man kann es mit bewusstseinserweiternden Substanzen vergleichen. Es gibt psychedelische Drogen, die bei einigen Menschen Pforten geöffnet haben, schon bei den alten Schamanen. Sie haben Antworten über sich und die Welt bekommen. Aber was bringt dir das, wenn du nicht mehr aus diesem Trip zurückkommst?
Wie real ist eigentlich unsere Welt, in der wir leben?
Ich denke, dass vieles eine Illusion, beziehungsweise eine Reduktion der Realität ist. Unsere Wahrnehmung täuscht uns. Zum Beispiel die Kategorien, die wir schaffen, um die Welt zu erklären. Ich sehe einen Baum. Es ist ein absolut individueller Baum, jeder Baum hat seine eigene Geschichte und sein eigenes Aussehen. Aber im Alltag nehme ich diesen Mikrokosmos bestenfalls oberflächlich wahr und wenn sich dazu noch mein begrenztes Sprachwissen bezüglich Bäumen einschaltet – denn ich bin kein Baumspezialist – lautet der zusammenfassende Gedanke dann ganz einfach: Baum. Viele Bäume zusammen ergeben die Kategorie Wald. Und selbst wenn ich mich in der Flora besser auskennen würde, wäre die Sprache immer noch ein trügerischer Wahrheitsfinder. Denn egal wie gross dein Wortschatz ist, er reduziert nach wie vor die Wirklichkeit. Die Welt ist ein extrem komplexes Gebilde und Wahrnehmungskrücken wie die Sprache gaukeln uns vor, sie sei einigermassen unter Kontrolle zu bringen und zu kategorisieren.
Wozu?
Der Mensch strebt nach Kontrolle. Wir brauchen den Halt, der uns diese Illusion gibt. Wenn du nichts mehr als echt, fassbar und wahr akzeptieren kannst, ist alles in Frage gestellt, alles aufgelöst. Dann bist du gezwungen, ins Irrenhaus zu gehen. Vielleicht bist du der Wahrheit, dem Sinn des Spiels, verdammt nahe gekommen, aber jetzt gehst du zugrunde.
Wie kam die Idee, den Film eXistenZ auf die Theaterbühne zu bringen?
Zum Anlass „20 Jahre Internet“ wurde letztes Jahr viel über das World Wide Web und virtuelle Welten berichtet. Ich sah mir auch wieder David Lynch- und Cronenberg-Filme an. Ich las Franz Kafka. Es braucht nicht viel, dass unser Verhältnis zur Wirklichkeit aus den Fugen gerät. Kafka hat mir auch ohne Kenntnis virtueller Dimensionen gezeigt, wie sehr sich unter der oberflächlichen Schicht der Realität weitere Welten von surrealistischer Natur verbergen. Alles Vertraute wird bei ihm plötzlich entfremdet und fährt dir so unheimlich ein, weil es eben nicht Fantasy ist, sondern nur durch eine leicht verschobene Sicht das Traumartige unseres Leben offenbart. All dies weckte einmal mehr meine Faszination für die Frage: Wie sehr können wir unserer Wahrnehmung trauen? eXistenZ schien mir dann das perfekte Skelett, um dies in der nächsten Produktion zu thematisieren.
Was reizte dich an der Umsetzung?
Ich bringe die Thematik von Computer und virtueller Welt auf die Theaterbühne – eine der ältesten Darstellungsformen von Geschichten. Dieser Kontrast reizt mich. Ich wollte keinen traditionellen Autoren wie Sartre, Shakespeare oder Schiller zum X-ten Mal aufführen. Sondern einen modernen wie Cronenberg. Und es funktioniert. eXistenZ ist zwar ein visuell ansprechender Film, aber seine grösste Stärke liegt in den Worten, den herrlichen Dialogen und philosophischen Aussagen.
Special Effects werden wir also keine zu sehen bekommen?
(Lacht) Nein, wir sind doch kein Hollywood-Theater.