Chinas unerschöpfliches Potential
Ai Weiwei ist Chinas einflussreichster Künstler und Dissident. 1957 wurde er als Sohn des chinesischen Dichters und Regimekritikers Ai Qing in Peking geboren. Doch für 20 Jahre musste seine Familie im Exil leben, bevor sie wieder nach Peking zurückkehrte. 1981 zog Ai für 12 Jahre nach New York City, wo er an der Parsons School of Design studierte. In den USA kam er mit Pop Art und Andy Warhol zum ersten Mal in Berührung. Dieser Einfluss spiegelt sich in seinen Werken wieder.
«Alles ist Kunst. Alles ist politisch.»
Eine Überblick über 20 Jahre seiner aussergewöhnlichen Karriere gab es kürzlich in der Londoner Royal Academy of Arts zu bestaunen. Von seinem Pekinger Studio in Caochangdi aus hat er die Ausstellung koordiniert, da er Ausreiseverbot hatte. In einer Crowdfunding-Aktion hat man die Installation «Tree» in den Innenhof platziert. Tote Baumstämme und Äste, die zu einem Baum zusammengesteckt wurden.
Die wichtigsten Werke verteilen sich auf 10 Räume. Von seiner Zeit in den USA bis jetzt. Provokativ und herausfordernd verarbeitet er seine persönliche Erfahrung, als er am 3. April 2001 am Pekinger Flughafen festgenommen wird. 81 Tage ist er an einem geheimen Ort, wird verhört und rund um die Uhr überwacht. Ihm wird Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt vorgeworfen. Als er am 22. Juni 2001 freikommt, wartet schon die nächste Anschuldigung: Steuerhinterziehung. 2,3 Millionen Schweizer Franken soll er zahlen. Ai Weiwei darf sein Haus nicht verlassen, 14 Überwachungskameras bewachen ihn auf Schritt und Tritt, sein Telefon wird angezapft. Die Installation: S.A.C.R.E.D. rekonstruiert in sechs rechteckigen Mini-Metallcontainern im Massstab 1:2 seine Gefangenschaft. Unter ständiger Beobachtung wird geduscht, geschlafen, gekackt. Durch Luken erlebt man, was Ai Weiwei durchleben musste.
«Kunst und menschliche Freiheit» sind laut Ai Weiwei unzertrennlich. Er stellt unangenehme Fragen, riskiert sein Leben, provoziert seine Gegner. Die Konsequenzen? Die sind ihm egal. Als beim Erdbeben in Sichuan 2008 über 5000 Schulkinder gestorben sind, weil die «Tofu-Schulen» aus instabilem Material entstanden sind und beim Bau gepfuscht wurde, macht er sich auf die Suche nach den Verantwortlichen. Das passt der Regierung überhaupt nicht. Sie wolle ihn mundtot machen. 2009 wird er in einem Hotel von Sicherheitsbeamten niedergeknüppelt. Kopfverletzungen sind die Folge. In München wird er notoperiert. Die Installation «Straight» zeigt 200 Tonnen Stahlstäbe. Genau diese Stäbe sind es, die dem Erdbeben nicht Stand hielten und die Schulgebäude wie Kartenhäuser zusammenfallen liessen. Heimlich kauft der Künstler die Stangen auf und lässt sie in seinem Studio wieder gerade biegen. An den Wänden hängen lange Listen mit den Namen und Geburtstag der toten Schulkinder.
Professur in Berlin
Ein anderer Raum widmet sich bunten Vasen aus der Han-Dynastie, die zweifarbig bemalt wurden. Eine Urne wurde mit einem Coca-Cola-Logo verziert. In schwarz-weiss hängen drei lebensgrosse Fotos an der Wand, die zeigen, wie der Künstler eine 2000 Jahre alte Urne auf dem Boden zerschellen lässt. «Dropping a Han Dynasty Urn» heisst die Sequenz.
Lange Zeit war nicht klar, ob er seinen Pass zurückbekommen würde und seine Ausstellung persönlich eröffnen kann. Doch im Juli 2015 bekam er die Erlaubnis, wieder ausreisen zu dürfen. Auf Instagram und Twitter postet der chinesische Künstler fleissig und lässt uns an seinem Leben teilhaben. In Berlin hat der mutige Bildhauer am 1. November seine Gastprofessur an der renommierten Universität der Künste angetreten und wird dort die nächsten drei Jahre unterrichten. Sein Sohn und dessen Mutter leben schon länger in der deutschen Hauptstadt.
Alle Bilder: © Elisabeth Sun