Shem Thomas: «Love Me As I Am» war ein Lucky Punch
Shem Thomas hat gerade sein neues Album «8» veröffentlicht. Bekannt wurde er einst durch die Teilnahme bei «The Voice of Switzerland» und hatte mit «Crossroads» einen Hit. Seither arbeitet er zielstrebig an seiner musikalischen Identität. So hat er bei der Produktion des neuen Albums viel stärker auf seine Instinkte und Gefühle gehört und bewusst alle Fäden in der Hand gehalten. Das bringt Freiheiten, aber auch Verantwortung. Im ausführlichen Interview erzählt ein gut gelaunter Shem Thomas von der Arbeit am Album und welche Themen ihn beeinflusst haben. Stichwort: Auszeit im Wald. Wieso er sich für das Album relativ viel Zeit genommen hat, war genauso Thema wie die Arbeit mit einem schwedischen Produzenten für ein gezieltes Streicher-Arrangement. Und Shem verrät, wieso er an seinem bemerkenswerten Mix aus Folk, Elektro und Trap zuerst gezweifelt hat.
Wie fühlst du dich, jetzt wo das zweite Album fertig und im Handel ist?
Es ist eine Befreiung. Fast wie, wenn ein Baby auf die Welt kommt. Auf dieses Album habe ich sehr lange hingearbeitet, insgesamt waren es ungefähr vier Jahre.
Gibt es einen Grund, dass die Arbeit am Album so lange gedauert hat?
Ja, den gibt es schon. Ich wollte bei diesem Album von A bis Z meine Finger im Spiel haben. Das hat beim Songwriting angefangen, wo ich beim Debüt schon viel selbst gemacht habe, und Erfahrung hatte. Daneben wollte ich in der Produktion Einfluss nehmen und habe angefangen, selbst zu produzieren. Das Album ist eigentlich in Eigenproduktion entstanden. Der dritte Punkt betrifft die Themen und Texte des Albums. Mir war extrem wichtig, dass es Themen sind, die mich interessieren und von denen ich das Gefühl habe, andere inspirieren zu können. Ich wollte weniger belanglose Texte, die man schon tausendmal in ähnlicher Form gehört hat, sondern Inhalte, die mir persönlich mega wichtig sind.
Wie war dies für dich, die Verantwortung für die Produktion zu übernehmen?
Ich hatte ein sehr gutes Gefühl, weil ich relativ gut gespürt habe, in welche Richtung ich möchte und wo es mich hinzieht. Das hat viel mit der Zeit zu tun, in der ich ausgestiegen bin, also noch vor der ganzen Musikgeschichte. In der Zeit habe ich gelernt, auf mein Bauchgefühl zu hören.
Du sprichst die Zeit an, in der du aus der Gesellschaft ausgestiegen bist und für dich allein im Wald gelebt hast?
Genau, das meinte ich.
Was hat diese Zeit mit dir als Musiker, als Künstler gemacht?
Ich glaube, sie hat mich geformt und mir überhaupt erst die Rolle als Musiker gegeben. Zuvor war ich nicht ganz sicher, ob die Musik wirklich meine Welt ist. Will ich meinen Lebensunterhalt mit Musik verdienen? Ist das sogar meine Lebensaufgabe? Diese Erfahrung hat mir sehr geholfen, Klarheit zu bekommen und diese Klarheit in mir drin, ist wahrscheinlich ein wichtiger Grund, dass ich Erfolg gehabt habe.
Bei den neuen und elektronischen Elementen, die ich mitnehmen wollte, weil ich sie geil finde, fragte ich mich: «Wieso nimmst du das nicht einfach mit rein?»
Wie bist du an das zweite Album herangegangen? Hattest du auch eine klare Idee im Kopf oder lässt du dich treiben und schaust, was sich ergibt?
Meiner Meinung nach ist beim ersten Album einiges auf der Strecke geblieben. Ich musste auf Zeitdruck am Album produzieren, weil die Fans nach dem Erfolg auf neue Musik gewartet haben. Dann hast du ein grosses Label, das ebenfalls gewisse Erwartungen und Druck hat. So sind Punkte wie Produktion, Text oder Themen etwas zu kurz gekommen. Darum wollte ich mir für das zweite Album so viel Zeit nehmen, wie ich benötige, damit ich 100% dahinterstehen kann. Für mich war klar, dass ich dieses Bild, das ich aus dem Wald mitgenommen habe, ins zweite Album einfliessen lassen möchte. Die Grundessenz, die ich im Wald gelernt habe, ist, die innere Vielfalt und die inneren Gegensätze zu integrieren und alles, was da ist, anzunehmen. Schlussendlich geht es um Selbstakzeptanz. Wir haben sehr viele Seiten in uns. Früher hatte ich oft das Gefühl, mich entscheiden zu müssen, was ich mache und das hat mich schlussendlich nur eingeengt. Dieses Mal wollte ich mich nicht einengen lassen und darauf hören, was mein roter Faden im musikalischen Sinne ist. Das ist bei mir klar die Stimme. Sie ist das Markenzeichen von mir als Shem Thomas. Das Kleid, in das ich meine Stimme verpacke, kann unterschiedlich sein und die Freiheit nehme ich mir, dass ich verschiedene Kleider anziehen kann. Darum ist das zweite Album sehr facettenreich.
Für mich geht das fast noch weiter. Den roten Faden bilden für mich deine Stimme im Zentrum, aber auch eine folkige Basis. Alles andere ist eine grosse Spielwiese für dich. Wie siehst du das?
Ich finde spannend, dass du das so siehst. Das mit der Stimme ist klar und die Spielwiese stimmt als Bild im Grunde auch. Ich habe mich beim Produzieren natürlich ausprobiert. Wenn man kein gelernter Produzent ist, geht man unkonventioneller an das Thema heran. Man macht vielleicht Sachen, die jemand mit mehr Erfahrung nicht unbedingt tun würde. Das hat aber auch Vorteile. «Miracle» ist für mich mit Bezug auf die Produktion die kreativste Nummer. Da sind sehr viele kleine Details drin, die mir beim Ausprobieren extrem viel Spass gemacht haben. Ich finde, dass die Liebe zum Detail manchmal den Unterschied ausmacht. Es sind Growersongs auf dem Album, die man mehrfach hören kann, ohne dass sie einem verleiden, weil immer wieder neue Kleinigkeiten zu entdecken sind. Bei den neuen und elektronischen Elementen, die ich mitnehmen wollte, weil ich sie geil finde, fragte ich mich: «Wieso nimmst du das nicht einfach mit rein?». Also die warmen, organischen Folksachen und die Elektro/Trap-Elemente. Man kennt das so nicht unbedingt. Aber ich habe so ein breites Interesse an Musik, dass ich alles, was mir gefällt und was ich cool finde, nahm und versucht habe, dieses in den acht Tracks auf der Platte zusammenzubringen.
Ich würde gerne ein paar Songs ansprechen, wenn das für dich ok ist. Vielleicht kannst du etwas dazu sagen, wie sie entstanden sind oder was sie dir bedeuten. Den ersten haben wir bereits angesprochen: «Feather On The Wind» scheint eine emotionale Achterbahn – auch auf textlicher Ebene - zu sein.
Es ist ein sehr emotionaler Track. Im Text geht es um den Moment, in dem du vor den überwältigenden Gefühlen kapitulierst. Unser Normalverhalten ist immer auch ein unangenehmes Gefühl, das mich traurig macht und mich erdrückt. Ich will es nicht haben und kämpfe dagegen an. Im Verlauf meines Lebens und vor allem auch in der Zeit im Wald, wo ich stark mit mir selbst konfrontiert war, entschied ich, einfach alles zuzulassen. Dann passierte etwas ganz Spezielles. Es hat gerumpelt. Ich sage immer, es ist wie ein Tanz mit dem Teufel. Du bist in einem Sturm und wenn du das einmal durchgemacht hast und loslassen kannst, wird es plötzlich leicht. Um das geht es im Text und das hast du richtig erfasst, es ist ein sehr emotionaler Song.
Hast du in der Zeit im Wald auch Musik gemacht oder gar nicht?
Nein, ich habe in der Zeit keine Songs geschrieben. Ich hatte keine elektrischen Geräte dabei und wusste noch gar nicht, ob das mein Weg wird. Darum war diese Zeit, um mich zu finden. Aber ich zehre immer noch von dieser intensiven Zeit und es entstehen schöne Perlen daraus.
Shem Thomas - «Feather On The Wind»
«Old Ferry Road» ist ein sehr persönlicher Song, in dem du über deine Strasse des Lebens reflektierst. «Soon i will be old, just a name on a stone» ist eine sehr pointierte Zeile. Wie findest du solche Zeilen? Wie entsteht bei dir ein Text?
Ich mag Zeilen, die zweideutig sind, die eine tiefere Bedeutung haben und die man nicht nur auf einer Ebene anschauen kann, weil sie bei genauer Betrachtung eine zweite Ebene bekommen. Ich nenne das gerne zweidimensional. Ich will aber auch nicht zu stark fixieren oder erklären, sondern einen gewissen Bereich offenlassen, damit man sich selbst im Song erkennen und allenfalls interpretieren kann.
Fällt dir das Texten schwer oder bist du jemand, der schnell einen Text fertig hat?
Weil die Texte englisch sind, hast du immer auch eine gewisse Herausforderung, um deine Idee in der englischen Sprache so rüberzubringen, wie du es gerne möchtest. Ich habe jeweils ziemlich klar im Kopf, was ich ausdrücken will, brauche dann aber schon noch Hilfe. Dafür habe ich einen Übersetzer, der mir hilft, die Sachen auf eine gute Weise in englisch auszudrücken. Dafür benötigst du jemanden, der sich mit der Sprache so gut auskennt, dass er deine Idee emotional übersetzen kann. Nur ein Translator reicht da nicht. In der englischen Sprache gibt es beispielweise andere Redewendungen als im Deutsch. Aber die Basis findet bei mir statt. Ich habe zuerst einen deutschen Text und weiss genau, wo dieser hinführen soll. Diese Arbeit fällt mir manchmal sehr leicht und bei anderen Songs ringe ich um die richtigen Worte. Die Idee ist dann in mir und ich weiss genau, was ich ausdrücken will, aber ich suche nach den richtigen Bildern. Eine Bildsprache ist für mich die stärkste Sprache. Gerade bei der Zeile, die du angesprochen hast, «just a name on a stone», passiert etwas. Man sieht den Grabstein im Kopf und jeder hat dazu ein emotionales Erlebnis in sich drin. Genau das versuche ich anzukurbeln.
Dann habe ich «Love Me As I Am» ausgesucht, weil du dort mit dem Schweden Matthias Bylund für die Arrangements gearbeitet hast. Wie bist du auf ihn gekommen und wie war die Zusammenarbeit? Offenbar hast du hier bewusst einen Teil der Produktion geteilt.
Es lief jede Produktion über mich. Aber bei gewissen Songs hatte ich Co-Produzenten. Manchmal waren das nur Teile eines Beats oder von Übergängen. Matthias habe ich über meinen Co-Produzenten von «Love Me As I Am», György Barocsay, der Schwede ist, kennen gelernt. Er hatte die Beziehungen zu ihm. Ich hatte die String Arrangements schon fertig, aber Lust, jemanden ins Boot zu holen, der sehr viel Erfahrung damit hat. Ich wusste, dass Schweden voller international erfolgreicher und sehr guter Songwriter und Produzenten ist. Gerade im Popbereich. Also haben wir Matthias angefragt und das hat relativ rasch geklappt. Es hat spontan gepasst. Aber ohne György wäre das wahrscheinlich nicht zustande gekommen.
Aber das klingt ziemlich unkompliziert.
Ja, halt mit Vitamin B. (lacht) Es läuft doch so, wenn du nicht irgendjemanden kennst, ist es oft sehr schwierig, an solche Leute heranzukommen. Und weil sich die beiden kennen, hat Matthias mir noch einen anständigen Preis offeriert. In dem Fall hat alles perfekt gepasst. Ein Lucky Punch. Und die Arrangements sind mega schön geworden.
Das wichtigste bei der Ausbildung der Stimme, ist für mich, die eigene Sensibilität und dass du dir zuhören kannst. Damit meine ich, dass du selbst erkennst, was nicht sauber gesungen ist oder wo noch Arbeit nötig ist.
Dann habe ich «Same Boat» ausgesucht, weil du thematisch etwas abweichst und leicht politisch wirst. Mit globalen Themen wie Klimawandel und der Abholzung in Brasilien. Er bringt als Schluss des Albums noch einen anderen Aspekt von dir mit rein.
Das stimmt. Ich habe mich politisch bisher ganz bewusst zurückgehalten. Ich finde, als Musiker sollte ich nicht politisieren, sondern bei der Musik bleiben. In dieser Rolle fühle ich mich wohl. Es ist für mich aber auch kein explizit politischer Song, sondern eher einer, der meine tiefe Naturverbundenheit thematisieret. Diese ist durch meine Erfahrungen richtig tief verwurzelt worden. Die ganze Umweltkrise, die immer mehr im Zentrum steht, auch wenn jetzt zwei Jahre die Pandemie im Vordergrund stand, wird ein Thema der Zukunft sein und das bereitet mir Sorgen.
Ich hatte beim Hören des Albums das Gefühl, dass deine Stimme sehr kräftig und sicher klingt. Wie viel Arbeit steckst du in deine Stimme?
Vielen Dank. (lacht) Ich denke, meine Stimme ist mein Hauptinstrument. Ich habe sehr viel Arbeit in die Stimme gelegt. Das wichtigste bei der Ausbildung der Stimme, ist für mich, die eigene Sensibilität und dass du dir zuhören kannst. Damit meine ich, dass du selbst erkennst, was nicht sauber gesungen ist oder wo noch Arbeit nötig ist. Klar, am Anfang braucht es vielleicht Feedback von aussen, aber irgendwann musst du so weit sein, selbst zu hören, wenn etwas nicht gut genug ist und wo du vielleicht noch mehr Emotionen möchtest. Dafür muss man sich immer wieder zuhören. Ich habe das immer so gemacht und dadurch hat sich meine Stimme automatisch ausgebildet und wurde immer sicherer und stärker.
Aber du arbeitest allein an deiner Stimme? Oder arbeitest du mit Vocal Coaches zusammen?
Nein, ich arbeite nicht mit Vocal Coaches. Am Anfang war das sinnvoll, aber irgendwann war ich mein eigener Coach. Dazu kommt, dass ich Popmusik und nicht klassischen Operngesang mache. Im Popbereich ist wichtig, dass die Stimme einen Wiedererkennungswert hat und sie authentisch, glaubhaft und persönlich ist. Mich berühren nicht Stimmen, die möglichst sauber singen, sondern Stimmen mit Persönlichkeit, die etwas zu erzählen haben.
Ich nehme ungern Vergleiche in Interviews, aber da wir von Stimmen mit Persönlichkeit sprechen, bei «Feather On The Wind» erinnert deine Stimme teilweise an Lewis Capaldi.
Es freut mich sehr, dass du sagst. Ich glaube, du spürst die Songs sehr gut. Bei dem Song war für mich klar, dass die Stimme durch den ganzen Song führt. Alles andere ist nur ein Bisschen Beigemüse. Bei «Feather On The Wind» hörst du nur auf die Stimme, weil sie den Lead gibt. Lewis Capaldi ist genauso. Bei ihm checkst du gar nicht, dass hinter ihm noch mehr ist, weil seine Stimme so klar im Zentrum steht. Das war schon auch mein Ziel bei «Feather On The Wind».
Zum Schluss muss ich doch noch auf Corona kommen, weil im Kulturbereich ja seit ein paar Tagen alles wieder offen ist. Auf was freust du dich als Künstler jetzt am meisten?
Live spielen, ganz klar. Es klingt jetzt etwas kitschig, aber der Zeitpunkt ist so perfekt. 17. Februar ist der «Freedom Day» des Bundesrates und es ist der erste Tag, an dem wir auf Promotour sind. Und nächste Woche fängt die Live-Tour an. Daher ist es für mich vom Zeitpunkt her schlicht perfekt. Ich habe zudem das Gefühl, dass die Menschen spüren, dass wieder mehr möglich ist. Man sieht das Licht am Ende, was im letzten Sommer noch nicht ganz so stark war. Aber jetzt heisst es von vielen Seiten, dass wir wahrscheinlich wirklich am Ende der Pandemie sind. Ich hoffe, dass es so kommt. Aber zurück zur Frage. Ich freue mich voll auf das Spielen, um die Leute wieder direkt zu spüren und mit ihnen einen Abend zu kreieren. Mit meinen Songs und der Möglichkeit, dass ich sie damit direkt 1:1 inspirieren kann. Ich fühle das gerade sehr und das hat mir voll gefehlt in der Pandemie. Natürlich habe ich online Feedback bekommen, aber es ist einfach anders als live.
Vielen Dank für das Interview und viel Spass auf der Tour.
* Shem Thomas ist aktuell auf Tour und spielt u.a. am 2. März im Papiersaal Zürich. Tickets gibt es bei Ticketmaster.ch.
- Künstler: Shem Thomas
- Genre: Folk, Pop, Trap, Elektro
- Aktuelles Album: «8»
- Website von Shem Thomas mit Infos und Tourdaten