Geht nicht, gibt's nicht!

Buchkritik: Dr. Nils Jent - Leben am Limit
Bildquelle: 
www.woerterseh.ch

Text von Birgit Corinne Steinger- Sørensen

 

Mit 18 Jahren verunglückte Nils Jent schwer. Während der folgenden Notoperation stand sein Herz zweimal still. Seither ist er blind, schwer sprachbehindert und weitgehend gelähmt. Während seiner langen Zeit in Spitälern und Reha- Kliniken sahen ihn einige Ärzte in Zukunft in einer Behindertenwerkstatt beim Korbflechten. Abgesehen davon, dass Nils Jents Bewegungsapparat gar nicht mehr in der Lage wäre, solche Tätigkeiten auszuführen, war ihm klar, dass er viel mehr vom Leben will. Er holte die Matura nach und studierte im Anschluss Betriebswirtschaft. In seiner Doktorarbeit zeigte er erstmals auf, dass eine Zusammenarbeit zwischen Behinderten und Nichtbehinderten nicht nur soziale, sondern auch wirtschaftliche Vorteile bringt.

 

Selbstständiges Leben, trotz Behinderung

 

«Geht nicht, gibt’s nicht», dies ist Nils Jents Leitspruch. Der Autor und TV-Mann Röbi Koller hat viel Zeit mit Jent verbracht und sich zeigen lassen, vor welchen Hürden der Behinderte täglich steht. Seit über 30 Jahren lebt der heute 49-Jährige mit seinen Behinderungen, führt ein weitgehend selbstständiges Leben und hat Herausragendes geleistet. Zum Beispiel ist er Mitglied im Team des Center for Disability and Integration (CDI) der Universität St. Gallen. Doch das schaffte er nicht nur alleine. Seine Mutter hat beispielsweise alle Schulbücher für ihn auf Kassetten gesprochen, so dass ihr Sohn den Stoff überhaupt lernen konnte. 

Jent kam dabei sein phänomenales bildhaftes Gedächtnis zu Gute, welches er sich in der Zeit der Reha angeeignet hatte. Aus Langeweile brachte er sich nämlich das Schachspiel bei. Da er die Spielfläche nicht sehen kann, und mit seinen Händen die Figuren umwerfen würde, spielten sich die Züge nur in seinem Kopf ab.

 

Röbi Koller hat Jent in seinem Buch gefragt, ob er manchmal darüber nachdenke, wie es wäre, wenn er wieder sehen könnte? Denn die Medizin mache ja stets Fortschritte, so dass es nicht undenkbar sei, dass in nicht allzu ferner Zukunft Patienten wie er geheilt werden könnten. «Aber solche Visionen begeistern Jent wenig. Er habe sich in den letzten dreissig Jahren eine eigene Bilderwelt aufgebaut, die mit Bestimmtheit eine andere Qualität habe als die reale. Die Möglichkeit, wieder zu sehen, wäre vermutlich ein Schock, sagt er.» 

Bild:Marcus Studer

 

Dass es dieses Buch in die Top Ten der Schweizer Bestsellerliste schaffte, verwundert nicht. Röbi Koller hat Jents Geschichte einfühlsam, aber ohne Schnörkel, aufgeschrieben. Mit einigen eingeflochtenen Interviews lockerte er das Ganze auf. Eine aussergewöhnliche Lebensgeschichte, mit der nötigen Distanz aufgeschrieben, zeigt auf, wie wichtig es ist, dass man behinderte Menschen, wenn möglich, in den beruflichen und sozialen Alltag integrieren muss. Denn wie Jent sagt: «Nur weil man behindert ist, empfindet man nicht einfach Sympathie zu jedem Behinderten und möchte den Alltag nur im Kreise von Leidensgenossen verbringen.»

 

Eine Frage, auf die es keine Antwort gibt

 

Ein ganz besonderer Mensch, der mit seinen Aussagen zum Denken anregt: «Menschen neigen dazu, die Medaille mit der zerkratzten Seite nach oben zu drehen, statt sie auf ihrem Rand kreisen zu lassen und sich so an der Energie der schönen Seite zu laben. Wer es schafft, beide Seiten konstruktiv in sein Leben zu integrieren, profitiert entscheidend. Wo wäre ich heute, wenn ich damals stehen geblieben wäre – im sinnlosen Nachsinnen und der Frage nach dem Warum? Eine Frage, auf die es nie eine Antwort geben wird.»

 

Gleichzeitig mit dem Buch erschien auch der Dokumentarfilm «Unter Wasser atmen - das zweite Leben des Dr. Nils Jent» von Stefan Muggli und Andri Hinnen. Die beiden Schweizer zeigen in berührenden Bildern die Geschichte von Nils Jent. Am Zürich Film Festival 2011 bekamen sie dafür den Publikumspreis verliehen. 

 

  • Dr. Nils Jent - Ein Leben am Limit
  • Autor: Röbi Koller
  • Verlag: Woerterseh
  • ISBN: 978-3-03763-021-1
Patrick Holenstein / Fr, 17. Feb 2012